Der Streik
Rearden.
Dagny stockte der Atem, sie brachte nichts als einen leisen Laut des Erschreckens hervor. Beide wirbelten zu ihm herum. Lillian sah seinem Gesicht nichts an; Dagny sah, wie er litt.
„Das ist nicht nötig, Hank“, sagte sie.
„Doch – für mich schon“, antwortete er kalt und blickte sie dabei nicht an. Er sah Lillian an, als erteilte er ihr einen Befehl, dem sie sich nicht widersetzen konnte.
Lillian musterte sein Gesicht mit leichter Verwunderung, aber ohne Beunruhigung oder Zorn, wie jemand, der einem Rätsel ohne Bedeutung gegenübersteht. „Aber selbstverständlich“, sagte sie gefällig, ihre Stimme war wieder weich und selbstsicher. „Miss Taggart, bitte entschuldigen Sie, wenn ich den Eindruck erweckt habe, dass ich das Bestehen einer Beziehung vermutete, die ich als für Sie unwahrscheinlich und – soweit ich seine Neigungen kenne – als für meinen Mann unmöglich erachte.“
Sie wandte sich um und ging gleichgültig davon. Sie ließ die beiden allein, als beabsichtigte sie zu beweisen, dass ihre Worte zutrafen.
Dagny stand mit geschlossenen Augen still da; sie dachte an den Abend, an dem Lillian ihr das Armband gegeben hatte. Damals hatte er auf der Seite seiner Frau gestanden, jetzt stand er auf ihrer. Als Einzige von ihnen dreien verstand sie zur Gänze, was das bedeutete.
„Wirf mir das Schlimmste vor, was du möchtest. Du hast recht.“
Sie hörte seine Stimme und öffnete die Augen. Er sah sie kalt an, sein unbewegter Gesichtsausdruck ließ kein Anzeichen von Schmerz oder Entschuldigung erkennen, keine Hoffnung auf Vergebung.
„Liebster, quäl dich nicht so“, sagte sie. „Ich wusste doch, dass du verheiratet bist. Ich habe nie versucht, dieses Wissen zu leugnen. Es hat mich auch heute nicht verletzt.“
Ihr erstes Wort war der heftigste der Schläge, die er spürte: Sie hatte dieses Wort noch nie zuvor verwendet. Sie hatte ihn noch nie mit solcher Zärtlichkeit angesprochen. Sie hatte, wenn sie allein waren, noch nie über seine Ehe gesprochen – und doch sprach sie es jetzt mit müheloser Leichtigkeit aus.
Sie konnte in seinem Gesicht die Wut erkennen, den Widerstand gegen das Mitleid, den Blick, der ihr verächtlich sagte, dass er keine Qual hatte erkennen lassen und keine Hilfe brauchte; dann sah sie, wie ihm klar wurde, dass sie sein Gesicht ebenso gut kannte wie er ihres; er schloss die Augen, neigte ein wenig den Kopf und sagte ganz leise: „Danke.“
Sie lächelte und entfernte sich von ihm.
James Taggart hielt ein leeres Champagnerglas in der Hand und bemerkte die Ungeduld, mit der Balph Eubank einem vorbeikommenden Kellner winkte, als hätte sich dieser eines unverzeihlichen Vergehens schuldig gemacht. Erst dann beendete Eubank seinen Satz: „… aber Sie , Mr. Taggart, wissen, dass ein Mann der auf einer höheren Ebene lebt, nicht verstanden oder geschätzt werden kann. Es ist ein hoffnungsloser Kampf, in einer Welt, die von Geschäftsleuten dominiert wird, zu versuchen Unterstützung für die Literatur zu erhalten. Sie sind nichts weiter als langweilige, vulgäre Spießbürger oder habgierige Raubtiere wie Rearden.“
„Jim“, sagte Bertram Scudder und klopfte ihm dabei auf die Schulter, „das größte Kompliment, das ich Ihnen machen kann, ist, dass Sie kein echter Geschäftsmann sind!“
„Sie sind ein kultivierter Mann, Jim“, sagte Dr. Pritchett, „und kein ehemaliger Erzgräber wie Rearden. Ihnen muss ich nicht erklären, wie wichtig die Unterstützung Washingtons in der höheren Bildung ist.“
„Und Sie mochten meinen letzten Roman wirklich, Mr. Taggart?“, wiederholte Balph Eubank. „Sie mochten ihn wirklich ?“
Orren Boyle blickte auf seinem Weg durch den Saal zu der Gruppe hinüber, blieb jedoch nicht stehen. Der eine Blick genügte ihm, um einzuschätzen, worum es dort gerade ging. In Ordnung, dachte er, mit irgendetwas muss jeder handeln. Er wusste, was dort gehandelt wurde, kümmerte sich aber nicht weiter darum.
„Wir stehen am Beginn eines neuen Zeitalters“, sagte James Taggart über den Rand seines Champagnerglases hinweg. „Wir zerbrechen die grausame Tyrannei der Wirtschaftsmacht. Wir werden die Menschen von der Herrschaft des Dollars befreien. Wir werden unsere geistigen Ziele aus der Abhängigkeit von den Besitzern materieller Mittel erlösen. Wir werden unsere Kultur aus dem Würgegriff der Profitjäger befreien. Wir bauen eine Gesellschaft auf, die sich höheren Idealen verschreibt, und wir ersetzen die
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