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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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die fünfzig zu. Er hatte eher das kantige, gelassene und sture Gesicht eines zähen Lokführers als das des Präsidenten eines Unternehmens; das Gesicht eines Kämpfers mit jugendlicher, gebräunter Haut und ergrauendem Haar. Er hatte eine wacklige kleine Eisenbahngesellschaft in Arizona übernommen, deren Nettoertrag unter dem eines gutgehenden Lebensmittelladens gelegen hatte, und sie zur besten Eisenbahngesellschaft im Südwesten gemacht. Er sprach wenig, las nur selten Bücher und war nie aufs College gegangen. Die ganze Sphäre menschlichen Bestrebens ließ ihn bis auf eine Ausnahme völlig unbeeindruckt. Er besaß keine Spur dessen, was man gemeinhin als Kultur bezeichnete. Aber er kannte die Eisenbahn.
    „Warum wollen Sie nicht kämpfen?“
    „Weil sie das Recht hatten, so zu handeln.“
    „Dan“, fragte sie, „haben Sie den Verstand verloren?“
    „Ich habe noch nie in meinem Leben etwas zurückgenommen“, sagte er tonlos. „Ich gebe nichts darauf, was die Gerichte entscheiden. Ich habe versprochen, mich der Mehrheit zu fügen. Daher muss ich gehorchen.“
    „Haben Sie damit gerechnet, dass die Mehrheit Ihnen das antun würde?“
    „Nein.“ Ein leichtes Zucken durchfuhr das emotionslose Gesicht. Er sprach sanft, ohne sie anzusehen, immer noch mit hilflosem Erstaunen. „Nein, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich habe sie mehr als ein Jahr lang darüber reden hören, aber ich glaubte es nicht. Sogar als sie darüber abstimmten, glaubte ich es nicht.“
    „Was haben Sie erwartet?“
    „Ich dachte … Sie sagten, alle von uns müssten sich für das Gemeinwohl einsetzen. Ich dachte, das, was ich unten in Colorado getan habe, sei nützlich. Nützlich für alle.“
    „Ach, Sie verdammter Narr! Sehen Sie denn nicht, dass Sie genau dafür bestraft werden – weil es nützlich war?“
    Er schüttelte den Kopf. „Das verstehe ich nicht“, sagte er. „Aber ich sehe keinen Ausweg.“
    „Haben Sie ihnen versprochen, Ihrer eigenen Zerstörung zuzustimmen?“
    „Es scheint für keinen von uns eine Wahl zu geben.“
    „Was wollen Sie damit sagen?“
    „Dagny, die ganze Welt ist zurzeit in einem fürchterlichen Zustand. Ich weiß nicht, was mit ihr nicht stimmt, aber irgendetwas stimmt überhaupt nicht. Die Menschen müssen sich zusammenschließen und einen Ausweg finden. Aber wer soll entscheiden, welche Richtung eingeschlagen wird, wenn nicht die Mehrheit? Ich glaube, das ist die einzig faire Art, Entscheidungen zu treffen, ich kann mir keine andere denken. Vermutlich muss einer geopfert werden. Wenn sich herausstellt, dass ich das Opfer bin, habe ich kein Recht, mich zu beklagen. Das Recht ist auf ihrer Seite. Die Menschen müssen sich zusammenschließen.“
    Sie bemühte sich, ruhig zu bleiben, während sie sprach; sie zitterte vor Zorn. „Wenn das der Preis dafür ist, dass wir uns zusammenschließen, dann will ich verdammt sein, wenn ich weiter mit irgendwelchen menschlichen Wesen auf einer Erde lebe! Wenn die anderen nur überleben können, indem sie uns zerstören, wieso sollte uns daran gelegen sein, dass sie überleben? Nichts kann Selbstaufopferung rechtfertigen. Nichts kann ihnen das Recht geben, Menschen in Opfertiere zu verwandeln. Keine Moral kann zulassen, dass die Besten zerstört werden. Man kann nicht dafür bestraft werden, dass man etwas Gutes tut. Man kann nicht für seine Fähigkeiten bestraft werden. Wenn das alles rechtens wird, können wir auch gleich beginnen, einander abzuschlachten, denn dann gibt es auf dieser Welt überhaupt kein Recht mehr!“
    Er antwortete nicht. Er sah sie hilflos an.
    „Wenn unsere Welt so aussieht, wie können wir darin leben?“, fragte sie.
    „Ich weiß nicht …“, flüsterte er.
    „Dan, glauben Sie wirklich, dass es richtig ist? Ganz ehrlich, aus tiefstem Herzen, glauben Sie, dass es richtig ist?“
    Er schloss die Augen. „Nein“, sagte er. Dann sah er sie an, und sie konnte zum ersten Mal seinen gequälten Blick erkennen. „Ich sitze hier und versuche, das alles zu verstehen. Ich weiß, dass ich glauben sollte, es sei richtig, aber ich kann nicht. Es ist, als wollte meine Zunge es einfach nicht aussprechen. Ich sehe ständig jede einzelne Schwelle der Strecke dort unten vor mir, jedes Signal, jede Brücke, jede Nacht, die ich wach war, wenn …“ Sein Kopf fiel auf seine Arme. „Oh Gott, es ist so verdammt ungerecht!“
    „Dan“, sagte sie mit Nachdruck, „kämpfen Sie.“
    Er hob den Kopf. Sein Blick war leer. „Nein“, sagte er.

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