Der Streik
höflich: „Es ist nicht ratsam, James, mit Meinungen hausieren zu gehen. Du solltest dir selbst die peinliche Erkenntnis ersparen, welchen Wert dein Zuhörer ihnen beimisst.“
Als sie weitergegangen waren, fragte Dagny ihn: „Gibt es viele Leute wie James auf der Welt?“
Francisco lachte auf. „Eine ganze Menge.“
„Stört dich das nicht?“
„Nein. Ich muss mich nicht mit ihnen auseinandersetzen. Warum fragst du das?“
„Weil ich glaube, dass sie irgendwie gefährlich sind. Ich weiß nicht, wie …“
„Gütiger Himmel, Dagny! Erwartest du wirklich, dass ich mich vor einem Zeitgenossen wie James fürchte?“
Einige Tage später, als sie allein entlang des Flussufers durch den Wald gingen, fragte sie: „Francisco, was ist die verdorbenste Sorte Mensch?“
„Der Mensch ohne Ziel.“
Sie sah zu den geraden Baumstämmen hin, die sich von dem weiten, plötzlich aufleuchtenden Raum dahinter abhoben. Der Wald war düster und kühl, aber die Ausläufer der Äste fingen die heißen, silbernen Sonnenstrahlen, die das Wasser zurückwarf, ein. Sie fragte sich, warum sie diesen Anblick so genoss, hatte sie doch die Landschaft um sich herum niemals wahrgenommen; warum sie sich ihrer Freude so bewusst war, ihrer Bewegungen, ihres Körpers beim Gehen. Sie wollte nicht zu Francisco hinsehen. Sie hatte das Gefühl, dass seine Gegenwart sich viel intensiver und realer anfühlte, wenn sie ihren Blick von ihm abwandte, fast als würde das stärkere Bewusstsein ihrer selbst von ihm reflektiert wie das Sonnenlicht vom Wasser.
„Du denkst, dass du gut bist, nicht wahr?“, fragte er.
„Das dachte ich immer schon“, antwortete sie herausfordernd, ohne sich ihm zuzuwenden.
„Dann beweis es mir. Zeig mir, wie weit du es bei Taggart Transcontinental bringst. Ganz egal, wie gut du bist, ich erwarte von dir, dass du alles aus dir herausholst, damit du noch besser wirst. Und wenn du das Letzte gegeben hast, um ein Ziel zu erreichen, dann erwarte ich von dir, dass du dir gleich ein neues suchst.“
„Warum glaubst du, dass ich dir etwas würde beweisen wollen?“, fragte sie.
„Soll ich darauf antworten?“
„Nein“, flüsterte sie, ihren Blick auf das andere Ufer des Flusses in der Ferne geheftet.
Sie hörte, wie er kurz auflachte, und nach einer Weile sagte er: „Nichts im Leben hat irgendeine Bedeutung, Dagny, außer wie gut du deine Arbeit machst. Nichts sonst. Nur das. Alles, was du bist, entsteht daraus. Das ist das einzige Maß für den Wert eines Menschen. Alle ethischen Grundsätze, die man versucht dir einzutrichtern, sind nichts weiter als Papiergeld, das Betrüger in Umlauf bringen, um den Leuten ihre Tugenden abzuknöpfen. Kompetenz ist das einzige Moralkonzept, das auf einer Goldwährung beruht. Wenn du älter bist, wirst du verstehen, was ich meine.“
„Ich verstehe es jetzt schon. Aber … warum sind du und ich die Einzigen, die das zu wissen scheinen, Francisco?“
„Warum kümmern dich die anderen?“
„Weil ich die Dinge immer verstehen möchte, und es gibt etwas an den Leuten, das ich nicht verstehe.“
„Was?“
„Ich bin in der Schule immer unbeliebt gewesen, und es war mir egal, aber jetzt habe ich den Grund dafür entdeckt. Es ist ein unglaublicher Grund. Sie mögen mich nicht deshalb nicht, weil ich Dinge schlecht mache, sondern, weil ich sie gut mache. Sie mögen mich nicht, weil ich immer die besten Noten in der Klasse hatte. Ich muss dafür nicht einmal lernen. Ich bekomme immer Einsen. Glaubst du, ich sollte einmal zur Abwechslung versuchen, eine Vier zu bekommen und das beliebteste Mädchen der Schule zu werden?“
Francisco blieb stehen, sah sie an und schlug ihr ins Gesicht.
Alles, was sie fühlte, war in diesem einen Moment enthalten, in dem der Boden unter ihren Füßen bebte, in einer einzigen Gefühlsaufwallung. Sie wusste, dass sie jede andere Person, die gewagt hätte, sie zu schlagen, umgebracht hätte. Sie konnte die heftige Wut spüren, die ihr die Kraft gegeben hätte, es zu tun – und die ebenso heftige Freude darüber, dass es Francisco gewesen war, der es getan hatte. Sie genoss den dumpfen, heißen Schmerz auf ihrer Wange und den Geschmack von Blut in ihrem Mundwinkel. Sie genoss das, was sie plötzlich an ihm verstand, an sich selbst und an seinem Beweggrund.
Sie stemmte die Füße auf den Boden, um das Schwindelgefühl zu überwinden, sie hielt ihren Kopf gerade und stand ihm mit dem Bewusstsein einer neuen Macht gegenüber. Zum ersten Mal fühlte
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