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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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sie sich ihm ebenbürtig. Sie sah ihn mit einem spöttischen, triumphierenden Lächeln an.
    „Habe ich dich so verletzt?“, fragte sie.
    Er blickte erstaunt, die Frage und ihr Lächeln waren nicht die eines Kindes. Er antwortete: „Ja – wenn dich das glücklich macht.“
    „Das tut es.“
    „Tu das nie wieder. Mach nie wieder solche Scherze.“
    „Sei nicht albern. Wie konntest du nur denken, mir läge daran, beliebt zu sein?“
    „Wenn du älter bist, wirst du verstehen, was du gerade Unmögliches gesagt hast.“
    „Ich verstehe es jetzt schon.“
    Er drehte sich plötzlich weg, zog sein Taschentuch heraus und tauchte es in das Wasser des Flusses. „Komm her“, befahl er.
    Sie lachte und machte einen Schritt zurück. „Oh nein, ich möchte, dass es so bleibt. Ich hoffe, es schwillt ordentlich an. Ich mag es.“
    „Er sah sie lange an. Langsam und sehr ernst sagte er: „Dagny, du bist wundervoll.“
    „Ich habe mir immer schon gedacht, dass du der Meinung bist“, antwortete sie in einem unverschämt beiläufigen Tonfall.
    Als sie nach Hause kam, erzählte sie ihrer Mutter, sie habe sich ihre Lippen an einem Felsen aufgeschlagen. Es war die einzige Lüge, die sie jemals aussprach. Sie log nicht, um Francisco zu schützen, sondern weil sie aus einem unbestimmten Grund, den sie nicht beschreiben konnte, das Gefühl hatte, dass dieser Zwischenfall ein Geheimnis war, das zu wertvoll war, um es mit jemandem zu teilen.
    Im nächsten Sommer, in dem Francisco kam, war sie sechzehn. Sie lief los, den Hügel hinunter, um ihn zu treffen, blieb aber plötzlich stehen. Er bemerkte es und hielt ebenfalls an. Sie blickten sich einen Augenblick lang über einen grünen Abhang hinweg an. Schließlich ging er zu ihr hoch, ganz langsam, während sie dort stand und auf ihn wartete.
    Als er näher kam, lächelte sie unschuldig, als wäre sie sich eines beabsichtigten oder gewonnenen Kräftemessens nicht bewusst.
    „Es wird dich vielleicht interessieren“, sagte sie, „dass ich eine Arbeit bei der Eisenbahn habe. Nachtdienst in Rockdale.“
    Er lachte. „Alles klar, Taggart Transcontinental, jetzt kann das Rennen losgehen. Wir werden sehen, wer seinen Vorfahren die größere Ehre erweist: du Nat Taggart oder ich Sebastián d’Anconia.“
    In diesem Winter reduzierte sie ihr Leben auf die Einfachheit einer geometrischen Zeichnung: Es bestand nur aus wenigen Geraden – zum Technik-College in der Stadt hin und zurück, jede Nacht zu ihrer Arbeit am Bahnhof von Rockdale hin und zurück – und aus dem geschlossenen Kreis ihres Zimmers, in dem Darstellungen von Motoren, Entwürfe von Stahlkonstruktionen und Zugfahrpläne herumlagen.
    Mrs. Taggart beobachtete ihre Tochter unglücklich und befremdet. Sie konnte ihr alle Versäumnisse verzeihen, außer einem: Dagny zeigte kein Interesse an Männern, hatte überhaupt keinen Sinn für Romantik. Mrs. Taggart war mit Extremen nicht einverstanden, hätte das gegenteilige Extrem jedoch zur Not ertragen. Sie ertappte sich dabei, wie sie dachte, so sei es schlimmer. Es war ihr peinlich zuzugeben, dass ihre Tochter mit siebzehn noch nicht einen einzigen Verehrer hatte.
    „Dagny und Francisco d’Anconia?“, sagte sie mit einem betrübten Lächeln, wenn ihre Freunde neugierig fragten. „Oh nein, das ist keine Romanze. Es ist eine Art internationales Industriekartell. Das ist offensichtlich alles, was sie interessiert.“
    Eines Abends hörte Mrs. Taggart, wie James im Beisein von Gästen und mit einem seltsam selbstzufriedenen Ton in der Stimme sagte: „Obwohl du nach ihr benannt bist, Dagny, siehst du in Wirklichkeit eher aus wie Nat Taggart als wie seine Frau, die erste Dagny Taggart, die für ihre Schönheit bekannt war.“ Mrs. Taggart wusste nicht, was sie am meisten beleidigte: dass James es gesagt hatte oder dass Dagny es glücklich als Kompliment hingenommen hatte.
    Sie würde nie eine Gelegenheit bekommen, sich eine klare Vorstellung von ihrer Tochter zu machen, dachte Mrs. Taggart. Dagny war nur eine Gestalt, die in die Wohnung hinein und wieder hinaus eilte, eine schmale Erscheinung in einer Lederjacke mit hochgestelltem Kragen, mit kurzem Rock und Beinen wie ein Showgirl. Sie ging, wenn sie den Raum durchquerte, mit maskulinem, energischem Schritt, doch besaßen ihre Bewegungen eine besondere Anmut, sie waren rasch und geschmeidig und, seltsamerweise, herausfordernd feminin.
    Manchmal, wenn sie einen kurzen Blick auf Dagnys Gesicht erhaschte, sah Mrs. Taggart einen

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