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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Ausdruck, den sie nicht ganz einordnen konnte: Er war viel mehr als Fröhlichkeit, es war der Anblick von so unberührter, reiner Freude, dass es ihr unnatürlich vorkam. Kein junges Mädchen konnte so unsensibel sein, dass es im Leben noch keine Traurigkeit erfahren hatte. Ihre Tochter, so schlussfolgerte sie, war zu Gefühlen nicht fähig.
    „Dagny“, fragte sie einmal „möchtest du dich denn nicht einmal amüsieren?“ Dagny sah sie ungläubig an und erwiderte: „Was glaubst du denn, was ich tue?“
    Die Entscheidung, für ihre Tochter ein offizielles Debüt zu organisieren, bereitete Mrs. Taggart eine Menge Sorgen. Sie wusste nicht, ob sie der New Yorker Gesellschaft Miss Dagny Taggart, ein Mitglied der gesellschaftlichen Elite, vorstellen sollte oder die Betriebsbeamtin am Bahnhof in Rockdale. Sie neigte dazu zu glauben, dass Letzteres eher zutraf, und war überzeugt, dass Dagny die Idee zu einem solchen Ereignis zurückweisen würde. Sie war erstaunt, als Dagny mit unerklärlichem kindlichen Eifer einwilligte.
    Sie war abermals erstaunt, als sie Dagny in ihrem Kleid für die Gesellschaft sah. Es war das erste feminine Kleid, das sie jemals getragen hatte – ein Abendkleid aus weißem Chiffon mit einem weiten Rock, der sie wie eine Wolke umhüllte. Mrs. Taggart hatte erwartet, dass sie eine lächerliche Figur abgeben würde. Doch Dagny war eine Schönheit. Sie sah sowohl älter als auch strahlender und unschuldiger aus als sonst. Als sie vor einem Spiegel stand, hielt sie ihren Kopf, wie Nat Taggarts Frau ihn gehalten haben würde.
    „Dagny“, sagte Mrs. Taggart sanft und vorwurfsvoll, „siehst du, wie wunderschön du sein kannst, wenn du nur willst?“
    „Ja“, sagte Dagny ohne jede Verwunderung.
    Der Ballsaal des Wayne-Falkland-Hotels war unter der Anleitung von Mrs. Taggart geschmückt worden. Sie verfügte über künstlerischen Geschmack, und die Ausrichtung dieses Abends war ihr Meisterstück geworden. „Es gibt Dinge, Dagny, von denen ich mir wünsche, dass du sie wahrzunehmen lernst“, sagte sie, „Lichter, Farben, Blumen, Musik. Sie sind nicht so nebensächlich, wie du vielleicht denkst.“ „Ich habe nie gedacht, dass sie nebensächlich wären“, antwortete Dagny glücklich. Für einen Moment spürte Mrs. Taggart ein Band zwischen ihnen. Dagny sah sie mit der Dankbarkeit und dem Vertrauen eines Kindes an. „Das sind die Dinge, die das Leben schön machen“, sagte Mrs. Taggart. „Ich wünsche mir, dass dieser Abend besonders schön für dich wird, Dagny. Der erste Ball ist das romantischste Ereignis im Leben.“
    Die größte Überraschung für Mrs. Taggart war der Augenblick, in dem sie Dagny im Licht stehen sah, wie sie sich im Ballsaal umblickte. Dies war kein Kind, kein Mädchen, sondern eine Frau mit solch selbstbewusster, gefährlicher Macht, dass Mrs. Taggart sie in schockierter Bewunderung anstarrte. In einer Zeit flüchtiger, zynischer, gleichgültiger Routine, unter Menschen, die sich hielten, als bestünden sie nicht aus Fleisch, sondern aus toter Masse, schien Dagnys Körperhaltung nahezu unanständig. Auf diese Art hätte eine Frau vor Jahrhunderten einen Ballsaal betreten, als es noch ein gewagter Akt war, den halbnackten Körper zur Schau zu stellen, um von Männern bewundert zu werden, ein Akt, der Bedeutung hatte – eine einzige Bedeutung, die von jedem als ein großes Abenteuer verstanden wurde. Und das, dachte Mrs. Taggart lächelnd, war das Mädchen, von dem sie geglaubt hatte, es hätte keine sexuelle Ausstrahlung. Sie fühlte sich enorm erleichtert und war etwas amüsiert, als sie darüber nachdachte, dass eine Entdeckung dieser Art sie erleichterte.
    Die Erleichterung hielt nur wenige Stunden an. Am Ende des Abends sah sie Dagny in einer Ecke des Ballsaales, wie sie auf einer Balustrade saß, als wäre sie ein Zaun, und ihre Beine unter dem Chiffonrock baumelten, als trüge sie Hosen. Sie sprach mit ein paar unbeholfenen jungen Männern, ihr Gesichtsausdruck war leer vor Verachtung.
    Weder Dagny noch Mrs. Taggart sprachen ein Wort auf dem Nachhauseweg. Doch Stunden später ging Mrs. Taggart aus einem plötzlichen Impuls heraus zum Zimmer ihrer Tochter. Dagny stand am Fenster, immer noch in ihrem weißen Abendkleid; es sah aus wie eine Wolke, die einen Körper stützte, der plötzlich viel zu schmächtig dafür war, ein kleiner Körper mit herabhängenden Schultern. Vor dem Fenster färbten sich die Wolken vom ersten Licht des Morgens grau.
    Als Dagny sich

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