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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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umdrehte, sah Mrs. Taggart in ihrer Miene nur verwirrte Hilflosigkeit. Das Gesicht wirkte ruhig, aber etwas in ihm ließ Mrs. Taggart bereuen, dass sie ihrer Tochter gewünscht hatte, Traurigkeit zu entdecken.
    „Mutter, denken die Leute, dass es eigentlich genau umgekehrt ist?“, fragte sie.
    „Was?“, fragte Mrs. Taggart verwundert.
    „Die Dinge, über die du gesprochen hast. Die Lichter und die Blumen. Erwarten die Leute, dass diese Dinge sie romantisch machen, und nicht umgekehrt?“
    „Was meinst du, Schatz?“
    „Da war nicht ein Mensch, der sich darüber gefreut hat“, sagte sie mit teilnahmsloser Stimme, „oder der überhaupt irgendetwas gedacht oder gefühlt hätte. Sie sind umhergegangen und haben dieselben langweiligen Dinge gesagt, die sie überall sagen. Wahrscheinlich haben sie gedacht, die Lichter würden ihnen Glanz verleihen.“
    „Du nimmst alles zu ernst, mein Schatz. Bei einem Ball muss man nicht geistreich sein. Man soll einfach nur fröhlich sein.“
    „Wie? Indem man dumm ist?“
    „Ich meine, hast du dich zum Beispiel nicht gefreut, die jungen Männer kennenzulernen?“
    „Welche Männer? Es war nicht ein Mann dort, dem ich nicht zehnmal überlegen wäre.“
    Tage später, als Dagny unbeschwert an ihrem Schreibtisch am Bahnhof von Rockdale saß, wo sie sich zu Hause fühlte, dachte sie an die Gesellschaft und ihre eigene Enttäuschung und zuckte verächtlich und tadelnd mit den Schultern. Sie sah auf. Es war Frühling, und die Zweige der Bäume, die draußen in der Finsternis standen, hatten schon Blätter. Die Luft war still und warm. Sie fragte sich, was sie sich von der Gesellschaft erwartet hatte. Sie wusste es nicht. Trotzdem spürte sie es wieder, hier, jetzt, als sie über einen klapprigen Tisch gebeugt hinaus in die Dunkelheit sah: eine freudige Erwartung, die keinen Gegenstand hatte, die in ihrem Körper aufstieg, langsam wie ein warmer Strom. Sie ließ sich träge vornüber auf den Schreibtisch sinken, sie empfand weder Müdigkeit noch Lust zu arbeiten.
    Als Francisco diesen Sommer kam, erzählte sie ihm von der Gesellschaft und von ihrer Enttäuschung. Er hörte schweigend zu und sah sie zum ersten Mal mit diesem Blick ungerührten Spottes an, den er sonst für andere bereithielt, ein Blick, der zu viel zu sehen schien. Sie hatte das Gefühl, als entnähme er ihren Worten mehr, als sie ihm bewusst sagte.
    An dem Abend, an dem sie ihn vorzeitig verließ, sah sie denselben Blick in seinen Augen. Sie saßen allein am Ufer des Flusses. Sie hatte noch eine Stunde Zeit, bevor sie in Rockdale ihren Dienst antreten musste. Der Himmel war von langen, schmalen Feuerstreifen durchzogen, und rote Funken trieben träge auf dem Wasser. Er hatte eine lange Zeit nichts gesagt, als sie unvermittelt aufsprang und ihm mitteilte, dass sie gehen müsse. Er versuchte nicht sie aufzuhalten, er lehnte sich zurück, stützte seine Ellbogen ins Gras und sah sie an, ohne sich zu rühren. Sein Blick schien zu sagen, dass er ihren Beweggrund kenne. Als sie verärgert die Böschung zum Haus hinaufeilte, fragte sie sich, was sie bewogen hatte wegzugehen. Sie wusste es nicht. Es war eine plötzliche Unruhe, die von einem Gefühl herrührte, das sie bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte: einem Gefühl der Erwartung.
    Jeden Abend fuhr sie die fünf Meilen vom Landhaus nach Rockdale. Im Morgengrauen kehrte sie zurück, schlief ein paar Stunden und stand mit den anderen wieder auf. Sie hatte kein Bedürfnis zu schlafen. Wenn sie sich in den ersten Sonnenstrahlen des Tages zum Schlafengehen auszog, empfand sie eine gespannte, freudige und grundlose Ungeduld, den beginnenden Tag anzugehen.
    Sie sah Franciscos spöttischen Blick abermals, und zwar über das Netz eines Tennisplatzes hinweg. Sie erinnerte sich nicht an den Beginn des Spiels. Sie hatten oft miteinander Tennis gespielt, und er hatte immer gewonnen. Sie wusste nicht, in welchem Augenblick sie beschlossen hatte, diesmal selbst zu gewinnen. Als sie sich dessen bewusst wurde, war es schon nicht mehr nur eine Entscheidung oder ein Wunsch, sondern eine stille Wut, die in ihr aufstieg. Sie wusste nicht, warum sie unbedingt gewinnen musste; sie wusste nicht, warum es ihr so wichtig, so dringend notwendig erschien; sie wusste nur, dass sie gewinnen musste und würde.
    Das Spiel erschien ihr leicht; es war, als wäre ihr eigener Wille verschwunden und als spielte die Kraft eines anderen für sie. Sie beobachtete Franciscos Körper: eine

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