Der Streik
Selbsterhalt wollte, kein anderer Weg blieb, als alles fallen zu lassen und fortzugehen – dennoch wollten sie ihn halten, wollten ihn im Opferfeuer festhalten, wollten ihn dazu bringen, sich von ihnen im Namen von Gnade, Vergebung und kannibalistischer Bruderliebe restlos verzehren zu lassen.
„Wenn du immer noch willst, dass ich es dir erkläre, Mutter“, sagte er sehr ruhig, „wenn du immer noch hoffst, dass ich nicht so grausam bin, beim Namen zu nennen, was du vorgibst, nicht zu wissen, dann sage ich dir, was mit deiner Vorstellung von Vergebung nicht stimmt: Du bedauerst, dass du mich verletzt hast, und als deine Wiedergutmachung dafür verlangst du von mir, dass ich mich vollständig aufopfere.“
„Logik!“, schrie sie. „Du kommst schon wieder mit deiner verdammten Logik an! Wir brauchen Mitgefühl – Mitgefühl, nicht Logik!“
Er stand auf.
„Warte! Geh nicht! Henry, verlass uns nicht! Verurteile uns nicht zum Untergang! Was wir auch sein mögen, wir sind Menschen! Wir wollen leben!“
„Nun, nein …“, setzte er leise erstaunt an und schloss leise entsetzt, als die Erkenntnis vollends zu ihm durchdrang: „Ich glaube nicht, dass ihr das wollt. Sonst hättet ihr mich zu schätzen gewusst.“
Wie zum stummen Beweis und als Antwort verzog Philips Gesicht sich langsam zu einem Ausdruck, der ein belustigtes Lächeln sein sollte, in dem jedoch nichts als Angst und Bosheit lagen. „Du wirst nicht einfach aufhören und abhauen können“, sagte Philip. „Ohne Geld kannst du nicht abhauen.“
Damit schien er sein Ziel zu erreichen; Rearden blieb stehen, dann lachte er in sich hinein. „Danke, Philip“, sagte er.
„Hä?“ Verdutzt ruckte Philip mit dem Kopf.
„Das ist also der Zweck dieses Pfändungsbescheids. Davor haben deine Freunde Angst. Ich wusste, sie wollten mich heute mit irgendetwas überrumpeln. Mir war nur nicht klar, dass die Pfändung dazu dient, mich von einer Flucht abzuhalten.“ Ungläubig wandte er sich an seine Mutter. „Und deshalb musstest du mich heute sehen, vor der Besprechung in New York.“
„Mutter wusste es nicht!“, fuhr Philip auf, dann biss er sich auf die Zunge und rief lauter: „Ich weiß nicht, wovon du redest! Ich habe nichts gesagt! Ich habe das nicht gesagt!“ Nun schien seine Angst von einer deutlich weniger mystischen und viel praktischeren Art zu sein.
„Keine Angst, du armselige kleine Ratte, ich werde ihnen nicht verraten, dass du mir alles gesagt hast. Und solltest du versucht haben …“
Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er betrachtete die drei Gesichter vor sich, und unvermittelt lächelte er müde, voller Mitleid und ungläubigem Abscheu. Er sah den endgültigen Widerspruch vor sich, die groteske Absurdität am Ende des Spiels der Irrationalisten: Die Männer in Washington hatten gehofft, ihn zu halten, indem sie diese drei veranlasst hatten, sich in der Rolle der Geiseln zu versuchen.
„Du hältst dich für so gut, nicht wahr?“ Dieser plötzliche Aufschrei kam von Lillian. Sie war aufgesprungen, um ihm den Weg zu verstellen. Ihr Gesicht war so verzerrt, wie er es schon einmal gesehen hatte: an dem Morgen, an dem sie den Namen seiner Geliebten erfahren hatte. „Du bist ja so gut! Du bist ja so stolz auf dich! Nun, ich habe dir etwas zu sagen!“
Sie sah aus, als hätte sie bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt, dass ihr Spiel verloren war. Der Anblick ihres Gesichts war wie ein letztes Bindeglied, mit dem sich für ihn ein Kreis schloss, und plötzlich wusste er in aller Klarheit, welches Spiel sie gespielt und warum sie ihn geheiratet hatte.
Falls jemanden zu lieben bedeutete, ihn zum Zentrum permanenter Aufmerksamkeit, zum Brennpunkt für die eigene Sicht auf das Leben zu machen, dachte er, dann stimmte es, dass sie ihn liebte. Doch während für ihn selbst Liebe bedeutete, das eigene Selbst und das Leben zu feiern, stellte für die Selbst- und Lebenshasser das Streben nach Zerstörung die einzig mögliche Form und das einzig mögliche Äquivalent der Liebe dar. Lillian hatte ihn um seiner höchsten Tugenden willen erwählt, um seiner Stärke, seiner Zuversicht, seines Stolzes willen; sie hatte ihn erwählt, wie man ein Objekt der Liebe erwählt, als Symbol für die lebendige Kraft des Menschen, doch ihr Ziel war die Zerstörung dieser Kraft gewesen.
Er sah sie beide bei ihrer ersten Begegnung vor sich: sich selbst, den Mann mit der ungezügelten Tatkraft und dem leidenschaftlichen Ehrgeiz, den Mann der Leistung, in dem
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