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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Flehen in ein unzugängliches Gesicht. Sie wussten nicht – und ihre Panik war ihr letzter Abwehrkampf gegen diese Erkenntnis –, dass sein gnadenloser Gerechtigkeitssinn, der einst ihr einziges Druckmittel gegen ihn gewesen war, der dafür gesorgt hatte, dass er jede Bestrafung akzeptiert und im Zweifel stets zu ihren Gunsten entschieden hatte, sich nun gegen sie gewandt hatte; dass dieselbe Stärke, die ihn früher tolerant gemacht hatte, ihn nun unbarmherzig machte; dass der Gerechtigkeitssinn, der jeden Irrtum aus Unkenntnis verzeihen würde, schon einen einzigen in bewusst böser Absicht unternommenen Schritt nicht vergab.
    „Henry, verstehst du uns denn nicht?“, flehte seine Mutter.
    „Doch“, erwiderte er ruhig.
    Sie sah fort, wich seinem klaren Blick aus. „Kümmert es dich nicht, was aus uns wird?“
    „Nein.“
    „Bist du denn kein Mensch?“ Ihre Stimme wurde schrill vor Zorn. „Bist du denn überhaupt nicht zur Liebe fähig? Es ist dein Herz, das ich zu erreichen versuche, nicht dein Verstand! Liebe ist nichts, worüber man diskutiert oder argumentiert oder verhandelt! Sie wird geschenkt! Sie wird gefühlt! Oh Gott, Henry, kannst du nicht fühlen, ohne zu denken?“
    „Das habe ich nie getan.“
    Nach einer Weile sprach sie mit leiser, eintöniger Stimme weiter. „Wir sind nicht so klug wie du, nicht so stark. Falls wir gesündigt und schwere Fehler gemacht haben, dann weil wir hilflos sind. Wir brauchen dich, du bist alles, was wir haben, und wir verlieren dich, und wir haben Angst. Wir leben in einer schrecklichen Zeit, und es wird schlimmer, die Leute haben Todesangst, sie sind verängstigt und blind und wissen nicht, was sie tun sollen. Wie sollen wir damit fertigwerden, wenn du uns verlässt? Wir sind klein und schwach und werden von all dem Schrecklichen auf der Welt hinweggefegt werden wie Treibholz. Vielleicht tragen wir unseren Teil Schuld daran, vielleicht haben wir es mitverursacht, weil wir es nicht besser wussten, aber was geschehen ist, ist geschehen – und wir können es jetzt nicht mehr aufhalten. Wenn du uns verlässt, sind wir verloren. Wenn du aufgibst und verschwindest wie all jene, die …“
    Es war kein Geräusch, was sie innehalten ließ, es war lediglich eine Bewegung seiner Augenbrauen, eine kurze, schnelle Bewegung wie ein Häkchen. Dann sahen sie ihn lächeln; in diesem Lächeln lag die furchtbarste Antwort.
    „Davor habt ihr also Angst“, sagte er bedächtig.
    „Du kannst nicht fortgehen!“, schrie seine Mutter in blinder Panik. „Du kannst jetzt nicht fortgehen! Letztes Jahr hättest du gekonnt, aber nicht jetzt! Nicht heute! Du kannst nicht fahnenflüchtig werden, denn jetzt werden sie es an deiner Familie auslassen! Sie werden uns mittellos dastehen lassen, sie werden alles beschlagnahmen, sie werden uns hungern lassen, sie werden …“
    „Sei still!“, rief Lillian, die geübter als die anderen darin war, die Anzeichen von Gefahr in Reardens Miene zu lesen.
    Ein ferner Widerhall seines Lächelns lag noch auf seinem Gesicht, und da wussten sie, dass er sie nicht mehr sah, doch sie konnten nicht wissen, warum in seinem Lächeln plötzlich ein Anflug von Schmerz und eine beinahe wehmütige Sehnsucht lag und warum er quer durchs Zimmer zum größten Fenster blickte.
    Er sah ein vornehm geschnittenes Gesicht vor sich, das gefasst blieb unter den Peitschenschlägen seiner Beleidigungen, und er hörte eine Stimme, die hier, in diesem Raum, leise zu ihm gesagt hatte: „Vor der Sünde der Vergebung wollte ich Sie warnen.“ Du, der du es damals schon wusstest, dachte er … doch er beendete den Satz nicht, sondern lächelte bitter, denn er wusste, was er beinahe gedacht hätte: Du, der du es damals schon wusstest – vergib mir.
    Da war es, dachte er, und betrachtete seine Familie, das Wesen ihrer Bitten um Gnade, die Logik jener Gefühle, die sie so selbstgerecht für nichtlogisch erklärten – das war die schlichte, garstige, wahre Natur all derer, die behaupteten, man könne fühlen, ohne zu denken, und die Gnade über Recht stellten.
    Sie hatten gewusst, was sie zu befürchten hatten. Sie hatten früher als er begriffen und benannt, was ihm als einzige Möglichkeit der Befreiung noch offenstand. Sie hatten die Hoffnungslosigkeit seiner Lage als Industrieller erkannt, die Vergeblichkeit seines Kampfs, die unerträglichen Bürden, die sich auf ihn herabsenkten, um ihn zu zermalmen. Sie hatten gewusst, dass ihm, wenn er Rationalität, Gerechtigkeit und

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