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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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einer Freizeithose und einem Hemd bekleidet, die leicht geschwungene Taillenlinie zeichnete sich vor dem Licht hinter ihm ab.
    Sie wusste, dass seine Augen diesen Moment festhielten, dann seine Vergangenheit und Zukunft überblickten, dass er sich all das mit blitzartigen Überlegungen ins Bewusstsein rief, und als eine Falte seines Hemdes sich mit der Bewegung seines Atems bewegte, kannte er schon das Ergebnis – und das Ergebnis war ein strahlendes Begrüßungslächeln.
    Sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Er ergriff ihren Arm und riss sie ins Zimmer, sie fühlte den Druck seiner Lippen, sie fühlte durch ihren plötzlich seltsam starren Mantel hindurch die Schlankheit seines Körpers. Sie sah das Lachen in seinen Augen, wieder und wieder fühlte sie die Berührung seiner Lippen, sie sank in seine Arme, sie atmete schwer, als hätte sie über fünf Stockwerke hinweg den Atem angehalten, ihr Gesicht drückte sich zwischen seinen Hals und seine Schulter, um ihn zu halten, um ihn mit ihren Armen, ihren Händen und der Haut ihrer Wange zu halten.
    „John … du lebst …“ – mehr konnte sie nicht sagen.
    Er nickte, als wüsste er, was sich hinter diesen Worten verbarg.
    Dann hob er ihren Hut auf, der zu Boden gefallen war, nahm ihr den Mantel ab und legte ihn zur Seite. Er besah mit einem anerkennenden Funkeln in seinen Augen ihren schlanken, zitternden Körper, und seine Hand strich über den engen, hochgeschlossenen dunkelblauen Pullover, der ihrem Körper die Zerbrechlichkeit eines Schulmädchens und die Spannung einer Kämpferin verlieh.
    „Wenn wir uns das nächste Mal sehen“, sagte er, „trage einen weißen. Auch das wird wundervoll aussehen.“
    Ihr wurde bewusst, dass sie noch dieselbe Kleidung anhatte, die sie zu Hause in den schlaflosen Stunden dieser Nacht getragen hatte, die sie aber nie in der Öffentlichkeit tragen würde. Sie lachte und entdeckte dabei ihre Fähigkeit zu lachen wieder: Sie hatte sich alles Mögliche vorgestellt, aber dass das seine ersten Worte sein würden, hätte sie nicht erwartet.
    „Falls wir uns denn ein nächstes Mal sehen“, setzte er ruhig hinzu.
    „Wie … meinst du das?“
    Er ging zur Tür und verriegelte sie. „Setz dich“, sagte er.
    Sie blieb stehen, nahm sich aber die Zeit, sich im Zimmer umzublicken, das sie bislang noch nicht wahrgenommen hatte: eine langgezogene, leere Dachkammer mit einem Bett in einer Ecke und einem Gasofen in einer anderen, ein paar Holzmöbel, nackte Dielen, durch die der Raum noch länger wirkte, eine einzige Lampe, die auf einem Schreibtisch brannte, eine geschlossene Tür in dem Schatten hinter dem Lichtschein der Lampe – und die Stadt New York hinter einem riesigen Fenster, eine Ausdehnung rechtwinkliger Gebäude und verstreuter Lichter und die Säule des Taggart Buildings in der Ferne.
    „Nun hör mir gut zu“, sagte er. „Ich schätze, wir haben etwa eine halbe Stunde Zeit. Ich weiß, weshalb du hergekommen bist. Ich habe dir gesagt, dass es schwer auszuhalten sein und dich wahrscheinlich überfordern würde. Bereue es nicht. Verstehst du? – Auch ich kann es nicht bereuen. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, wie wir von jetzt an vorzugehen haben. In etwa einer halben Stunde werden die Agenten der Plünderer, die dir gefolgt sind, hier sein und mich verhaften.“
    „Oh nein!“, stieß sie hervor.
    „Dagny, wer von ihnen auch nur eine Spur menschlichen Wahrnehmungsvermögens besaß, musste wissen, dass du nicht zu ihnen gehörst, dass du ihre letzte Verbindung zu mir warst, und er wird dich nicht aus den Augen gelassen haben – beziehungsweise aus den Augen seiner Spione.“
    „Mir ist niemand gefolgt! Ich habe Ausschau gehalten, ich …“
    „Du würdest gar nicht wissen, worauf du achten solltest. Die Kunst des Spitzelns beherrschen sie meisterhaft. Wer auch immer dir gefolgt ist, erstattet seinen Bossen in diesem Augenblick Bericht. Deine Anwesenheit in dieser Gegend, zu dieser Stunde, mein Name auf der Tafel im Erdgeschoss, die Tatsache, dass ich bei deiner Eisenbahn arbeite – das genügt selbst ihnen, um entsprechende Schlüsse zu ziehen.“
    „Dann lass uns hier verschwinden!“
    Er schüttelte den Kopf. „Sie haben den Block bereits umzingelt. Dein Verfolger wird jeden Polizisten im ganzen Bezirk auf Abruf bereitstehen haben. Ich möchte, dass du weißt, was du zu tun hast, wenn sie kommen. Dagny, du hast nur eine Chance, mich zu retten. Falls du nicht ganz verstanden haben solltest, was

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