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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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Miss Taggart, nicht in einer solchen Zeit. Das Land ist dafür nicht bereit. Ich persönlich bin zwar ganz Ihrer Meinung, ich bin ein freiheitsliebender Mensch, Miss Taggart, ich bin nicht auf Macht versessen, aber wir befinden uns in einem Notstand. Das Volk ist nicht bereit für Freiheit. Wir müssen eine starke Hand behalten. Wir können keine idealistische Theorie umsetzen, die …“
    „Dann fragen Sie mich nicht, was Sie tun sollen“, sagte sie und stand auf.
    „Aber, Miss Taggart …“
    „Ich bin nicht hergekommen, um mich zu streiten.“
    Sie war bereits an der Tür, als er seufzte: „Ich hoffe, er ist noch am Leben.“ Sie hielt inne. „Ich hoffe, sie haben nichts überstürzt.“
    Es verging ein Augenblick, ehe sie „Wer?“ fragen konnte, ohne dabei zu schreien.
    Er zuckte mit den Schultern, breitete die Arme aus und ließ sie verzagt fallen. „Ich kann meine eigenen Leute nicht mehr im Zaum halten. Ich weiß nicht, was sie möglicherweise versuchen werden. Es gibt eine Gruppierung – den Ferris-Lawson-Meigs-Kreis –, die mich seit über einem Jahr drängt, härtere Maßnahmen einzuführen. Sie meinen eine härtere Politik. Offen gesagt, meinen sie eine Gewaltherrschaft. Die Einführung der Todesstrafe für Zivilvergehen, für Kritiker, Andersdenkende und dergleichen. Sie sind der Meinung, dass wir die Leute, die nicht kooperieren und freiwillig im Interesse der Öffentlichkeit handeln wollen, dazu zwingen müssten. Nur mithilfe von Gewalt könne unser System funktionieren, sagen sie. Und betrachtet man die heutigen Zustände, haben sie möglicherweise recht. Aber Wesley will sich nicht auf Gewaltmethoden einlassen. Er ist ein friedliebender Mensch, ein Liberaler wie ich. Wir versuchen, die Ferris-Bande in Schach zu halten, aber … Sie wollen nicht, dass wir uns John Galt ergeben, verstehen Sie? Sie wollen nicht, dass wir mit ihm verhandeln. Sie wollen nicht, dass wir ihn finden. Ich traue ihnen alles zu. Wenn sie ihn zuerst fänden, würden sie – wer weiß, was sie tun würden. … Das ist es, was mir Sorgen macht. Warum antwortet er nicht? Warum hat er uns bisher nicht geantwortet? Was wäre, wenn sie ihn gefunden und getötet hätten? Ich hätte es nicht erfahren. … Deshalb hatte ich gehofft, dass Sie eventuell eine Möglichkeit hätten … irgendeine Möglichkeit zu wissen, ob er noch am Leben ist …“ Seine Stimme hob sich zu einer Frage.
    Sie musste gegen ein lähmendes Entsetzen, das sie überfiel, ihre ganze Kraft aufwenden, damit ihre Stimme und Knie gleichermaßen lange genug ruhig blieben, um sie sagen zu lassen: „Ich weiß es nicht“, und ihre Knie so weit zu beherrschen, dass sie in der Lage war, das Zimmer zu verlassen.
    *
    Hinter den morschen Pfosten eines ehemaligen Gemüsestands blickte Dagny verstohlen zurück auf die Straße: Die wenigen Laternen teilten die Straße in einzelne Inseln auf. Sie sah im ersten Lichtkreis ein Pfandhaus, im zweiten eine Kneipe, im letzten eine Kirche und dazwischen schwarze Lücken. Die Gehwege waren menschenleer; es war schwer zu erkennen, aber es schien niemand auf der Straße zu sein.
    Sie ging um die Ecke, trat dabei bewusst laut auf und blieb dann abrupt stehen, um zu horchen: Es war schwer zu sagen, ob die unnatürliche Enge in ihrer Brust das Geräusch ihres eigenen Herzschlags war, das sie kaum vom Geräusch des Verkehrs in der Ferne und dem gläsernen Plätschern des nahen East River unterscheiden konnte; doch sie hörte keine Schritte hinter sich. Sie zog halb zuckend, halb schaudernd die Schultern hoch und ging schneller. Eine verrostete Wanduhr in irgendeiner lichtlosen Kaschemme schlug heiser vier Uhr morgens.
    Die Furcht, verfolgt zu werden, erschien ihr nicht ganz wirklich, wie denn jetzt keine Furcht für sie wirklich war. Sie fragte sich, ob die unnatürliche Leichtigkeit ihres Körpers ein Zustand von Anspannung oder Entspannung war; ihr Körper erschien ihr so angespannt, dass sie das Gefühl hatte, er wäre auf ein einziges Attribut reduziert: auf die Kraft ihrer Bewegung. Ihr Verstand schien entspannt über den Dingen zu stehen wie ein Motor, der sich der automatischen Kontrolle durch ein Absolutes unterworfen hat, das nicht mehr angezweifelt wird. Könnte eine nackte Gewehrkugel ihren Flug wahrnehmen, würde sie genau das fühlen, dachte sie, nur die Bewegung und das Ziel, sonst nichts. Sie dachte es verschwommen, wie aus großer Entfernung, als wäre sie selbst unwirklich. Nur das Wort „nackt“ schien sie zu

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