Der Streik
Welt.
Keine Gefahr und keine Welt, dachte sie, als sie durch die Straßen der Elendsviertel zu einem Haus mit der Nummer 367 lief, in dem er wohnte oder auch nicht. Sie fragte sich, ob es das war, was man fühlte, wenn man ein Todesurteil erwartet: keine Furcht, keinen Zorn, keine Sorge, nichts als die eisige Losgelöstheit von Licht ohne Wärme oder von Wissen ohne Werte.
Sie stieß mit den Zehen gegen eine Blechdose, und das Scheppern war zu laut und anhaltend, als schlüge es gegen die Wände einer entvölkerten Stadt. Die Straßen schienen leer, aber nicht ruhig, sondern erschöpft, als wären die Menschen hinter den Mauern nicht eingeschlafen, sondern zusammengebrochen. Um diese Zeit würde er bereits von der Arbeit nach Hause gekommen sein, dachte sie … wenn er arbeitete … wenn er noch ein Zuhause hatte. … Sie sah die Umrisse der Elendsviertel, den bröckelnden Putz, die abblätternde Farbe, die verblichenen Reklameschilder erfolgloser Geschäfte mit unbrauchbaren Artikeln hinter ungeputzten Schaufenstern, die abgetretenen, brüchigen Stufen, die Leinen mit untragbaren Wäschestücken, das Ungetane, das Verwahrloste, das Aufgegebene, das Unvollständige, all die verdrehten Mahnmale eines verlorenen Wettlaufs gegen zwei Feinde: „keine Zeit“ und „keine Kraft“ – und sie dachte daran, dass er zwölf Jahre lang hier gelebt hatte, er, der eine so außergewöhnliche Macht hatte, das Schicksal menschlicher Existenz erträglicher zu machen.
Eine Erinnerung drängte sich ihr immer wieder auf und stand dann vor ihr: Sie hieß Starnesville. Sie erschauderte. Aber dies ist New York City!, schrie sie in Gedanken, um die Großartigkeit der Stadt, die sie einst geliebt hatte, zu verteidigen; dann sah sie regungslos und nüchtern dem Urteil ins Angesicht, das sie innerlich aussprach: Eine Stadt, die ihn zwölf Jahre lang in diesen Elendsvierteln hatte leben lassen, war zu derselben Zukunft verdammt und verurteilt wie Starnesville.
Dann, mit einem Mal, wurde es unwichtig; sie fühlte einen eigenartigen Schock, wie den Schock plötzlichen Schweigens, ein Gefühl innerer Stille, die sie für ein Gefühl der Ruhe hielt: Sie sah die Nummer 367 über der Eingangstür eines alten Wohnhauses.
Sie war ruhig, dachte sie, nur der Fluss der Zeit war plötzlich unterbrochen, und ihre Wahrnehmung zerfiel in einzelne Bruchstücke: Ihr war der Augenblick bewusst, in dem sie die Nummer erblickte; dann der Augenblick, in dem sie im moderigen Halblicht eines Hauseingangs die Liste auf einer Tafel durchging und die Worte „John Galt, 5. Stock hinten“ las, die mit Bleistift unbeholfen hingekritzelt worden waren; dann der Augenblick, in dem sie am Fuß einer Treppe innehielt, auf die im Dunkeln verschwindenden Biegungen das Geländers hochblickte, sich unversehens zitternd vor Angst gegen eine Wand lehnte und nichts mehr wissen wollte; dann der Augenblick, in dem sie die Bewegung ihres Fußes beim Betreten der ersten Stufe wahrnahm; dann eine einzige ununterbrochene, leichte Bewegung, ein müheloser Aufstieg ohne Zweifel oder Furcht, das Gefühl, dass ihre unbeirrten Füße die gewundenen Treppenabsätze hinter sich ließen, als entspränge der Impuls ihres unwiderstehlichen Aufstiegs ihrer aufrechten Körperhaltung, der Sicherheit ihrer Schultern, ihrem gehobenen Kopf und der feierlichen, frohen Gewissheit, dass ihr letzten Endes im Leben kein Unglück widerfahren werde, am Ende jener Stiege, die zu erklimmen sie siebenunddreißig Jahre gebraucht hatte.
Oben angekommen, sah sie einen schmalen Gang, dessen Wände auf eine unbeleuchtete Tür zuliefen. Sie hörte, wie die Dielen unter ihren Schritten in der Stille ächzten. Sie spürte den Druck, mit dem ihr Finger die Klingel betätigte, und hörte das Läuten in dem unbekannten Raum jenseits der Tür. Sie wartete. Sie hörte das kurze Knacken einer Diele, doch es kam aus dem Geschoss unter ihr. Sie hörte das klagende Aufheulen eines Schleppboots irgendwo auf dem Fluss. Dann wusste sie, dass ihr eine kurze Zeitspanne entgangen war, denn ihre nächste Wahrnehmung war nicht wie ein Augenblick des Erwachens, sondern wie ein Augenblick der Geburt: als rissen zwei Geräusche sie aus einer Leere, das Geräusch eines Schrittes hinter der Tür und das Geräusch eines Riegels, der geöffnet wurde – aber sie war erst in dem Augenblick wieder ganz bei sich, als plötzlich keine Tür mehr vor ihr war und John Galt lässig auf der Türschwelle seiner Wohnungstür stand. Er war mit
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