Der Streik
ich im Radio über den Menschen gesagt habe, der den Mittelweg wählt, dann wirst du es jetzt verstehen. Es gibt für dich keinen Mittelweg. Und du kannst dich nicht auf meine Seite schlagen, solange sie uns in der Hand haben. Du musst dich jetzt auf ihre Seite stellen.“
„Was?“
„Du musst dich auf ihre Seite stellen, und zwar so vollständig, konsequent und nachdrücklich, wie es dir deine Fähigkeit zur Verstellung erlaubt. Du musst dich verhalten, als wärst du eine von ihnen. Du musst dich wie mein schlimmster Feind verhalten. Wenn du das tust, komme ich möglicherweise lebend davon. Sie brauchen mich zu sehr. Sie werden nichts anderes unversucht lassen, ehe sie sich dazu durchringen, mich zu töten. Was auch immer sie den Menschen abringen, sie haben ausschließlich über die Werte ihrer Opfer darauf Zugriff – aber gegen mich haben sie keinen Wert in der Hand, es gibt nichts, womit sie mir drohen könnten. Wenn sie allerdings den leisesten Verdacht schöpfen, was wir einander bedeuten, werden sie dich binnen einer Woche vor meinen Augen auf eine Folterbank spannen – ich spreche von physischer Folter. Und darauf werde ich nicht warten. Sobald jemand eine Drohung gegen dich ausspricht, werde ich mich umbringen und sie damit aufhalten.“
Er sagte es ohne Nachdruck, im gleichen unpersönlichen Tonfall sachlicher Berechnung wie alles Übrige. Sie wusste, dass er es ernst meinte, und das zu Recht: Sie erkannte, auf welche Weise nur sie die Macht hatte, ihn zu zerstören, wohingegen alle Macht seiner Feinde ins Leere laufen würde. Er sah die Stille in ihren Augen, den Ausdruck von Verständnis und Entsetzen. Er nickte und lächelte leise.
„Ich muss dir nicht sagen, dass das kein Akt der Selbstaufopferung wäre“, sagte er. „Ich habe keine Lust, nach ihren Bedingungen zu leben, ich habe keine Lust, ihnen zu gehorchen, und ich habe keine Lust, mit anzusehen, wie man dich langsam zu Tode quält. Danach wären keine Werte mehr für mich erstrebenswert – und ich habe keine Lust, ohne Werte zu leben. Ich muss dir nicht sagen, dass wir denen, die uns eine Waffe vorhalten, keine Moral schulden. Wende also jede in deiner Macht stehende Kunst der Verstellung an, um sie davon zu überzeugen, dass du mich hasst. Dann haben wir eine Chance, am Leben zu bleiben und zu entkommen – ich weiß zwar nicht, wann und wie, aber ich weiß, dass es mir freisteht zu handeln. Hast du mich verstanden?“
Sie zwang sich, den Kopf zu heben, ihn geradewegs anzuschauen und zu nicken.
„Wenn sie auftauchen“, sagte er, „dann sag ihnen, dass du versucht hast, mich für sie zu finden, dass du Verdacht geschöpft hast, als du meinen Namen auf deiner Gehaltsliste gesehen hast, und hierher gekommen bist, um Nachforschungen anzustellen.“
Sie nickte.
„Ich werde meine Identität nicht sofort zugeben – möglicherweise werden sie meine Stimme erkennen, aber ich werde versuchen, es abzustreiten –, sodass du diejenige sein wirst, die ihnen sagt, dass ich der John Galt bin, den sie suchen.“
Diesmal brauchte sie ein paar Sekunden länger, doch dann nickte sie erneut.
„Danach wirst du die Belohnung in Höhe von fünfhunderttausend Dollar einfordern – und entgegennehmen –, die sie für meine Ergreifung ausgesetzt haben.“
Sie schloss die Augen und nickte.
„Dagny“, sagte er langsam, „du kannst in ihrem System unmöglich deine eigenen Werte verfolgen. Früher oder später, ob du es wolltest oder nicht, mussten sie dich an den Punkt bringen, an dem du mir nur beistehen kannst, indem du dich gegen mich wendest. Nimm all deine Kraft zusammen, dann werden wir uns diese halbe Stunde und möglicherweise auch eine Zukunft verdienen.“
„Ich werde es tun“, sagte sie entschlossen und fügte hinzu: „falls es denn so kommen sollte, falls sie …“
„Es wird so kommen. Bereue es nicht. Ich werde es nicht bereuen. Du hast unsere Feinde noch nicht durchschaut. Jetzt wirst du sie durchschauen. Wenn ich die Schachfigur sein muss, die sie dir vorführt, um dich zu überzeugen, dann bin ich dazu gerne bereit, um dich ihnen ein für allemal abzuringen. Du wolltest nicht länger warten? Oh, Dagny, Dagny, ich wollte es auch nicht!“
Es war die Art, wie er sie festhielt und ihren Mund küsste, die ihr das Gefühl gab, dass jeder Schritt, den sie unternommen hatte, jede Gefahr, die sie eingegangen war, jeder Zweifel, den sie gehegt, und selbst der Verrat, den sie an ihm begangen hatte – wenn es denn ein Verrat war
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