Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
Vom Netzwerk:
dem Fußboden und spielte mit Murmeln.
    Niemand hatte sich je darüber Gedanken gemacht, ob Francisco d’Anconia gut aussah oder nicht, es erschien unerheblich. Wenn er einen Raum betrat, war es unmöglich, jemand anderen anzusehen. Seine große, schlanke Gestalt hatte ein vornehmes Auftreten, das zu echt war, um modern zu sein, und er bewegte sich, als trüge er einen Umhang, der hinter ihm im Wind wehte. Wenn die Leute ihn beschrieben, sagten sie, er habe die Lebenskraft eines gesunden Tieres, doch sie ahnten, dass das nicht zutraf. Er hatte die Lebenskraft eines gesunden Menschen, etwas, das so selten war, dass es niemand erkannte. Er hatte die Kraft der Sicherheit.
    Niemand beschrieb sein Aussehen als lateinamerikanisch, dennoch passte das Wort Latino auf ihn, nicht in seinem gegenwärtigen, sondern in seinem ursprünglichen Sinn, nicht mit Bezug auf Spanien, sondern auf das alte Rom. Sein Körper war ein Beispiel perfekter Stimmigkeit. Er war hager, hatte eine straffe Muskulatur, lange Beine und bewegte sich rasch. Seine Gesichtszüge waren fein geschnitten wie bei einer Statue. Sein Haar, das er zurückgekämmt trug, war schwarz und glatt. Die Sonnenbräune seiner Haut intensivierte die eindringliche Farbe seiner Augen: ein reines, helles Blau. Sein Gesicht war offen, die schnellen Wechsel seines Ausdrucks spiegelten wider, was immer er fühlte, als hätte er nichts zu verbergen. Seine blauen Augen waren ruhig und beständig und verrieten nie, was er dachte.
    Er saß in einem Schlafanzug aus feiner schwarzer Seide auf dem Boden seines Salons. Die Murmeln, die auf dem Teppich um ihn herum verstreut lagen, waren aus den Halbedelsteinen seiner Heimat hergestellt: Karneol und Bergkristall. Er stand nicht auf, als Dagny eintrat. Im Sitzen sah er zu ihr auf, und eine Murmel aus Kristall fiel wie eine Träne aus seiner Hand. Er lächelte das unverändert freche und strahlende Lächeln seiner Kindheit.
    „Hallo, Slug!“
    Sie hörte sich unwillkürlich hilflos und glücklich antworten: „Hallo, Frisco!“
    Sie betrachtete sein Gesicht. Es war das Gesicht, das sie gekannt hatte. Darin war weder ein Anzeichen seines Lebenswandels zu erkennen noch etwas von dem, was sie in ihrer letzten gemeinsamen Nacht gesehen hatte. Es gab keine Spur von Tragödie, keine Bitterkeit, keine Anspannung – nur den funkelnden Spott, gereifter und ausgeprägter, den Blick von gefährlich unvorhersehbarer Heiterkeit und die große unschuldige Gemütsruhe. Aber das war unmöglich, dachte sie. Es schockierte sie mehr als alles andere.
    Seine Augen sahen sie prüfend an: den abgetragenen, offenen Mantel, der ihr fast von den Schultern rutschte, und den schlanken Körper in dem grauen Kostüm, das wie eine Bürouniform aussah.
    „Wenn du in diesem Aufzug hergekommen bist, damit ich nicht merke, wie wunderschön du aussiehst“, sagte er, „hast du dich verrechnet. Du bist wunderschön. Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie froh ich bin, ein Gesicht zu sehen, das intelligent ist, selbst wenn es einer Frau gehört. Aber das willst du nicht hören. Deshalb bist du nicht hergekommen.“
    Seine Worte waren in vieler Hinsicht unangebracht, dennoch sagte er sie so leicht, dass ihr die Wirklichkeit, ihr Zorn und der Zweck ihres Besuches wieder bewusst wurden. Sie blieb stehen, blickte mit ausdrucksloser Miene auf ihn hinab und gestattete ihm keine Vertrautheiten, auch nicht die Macht, sie zu verletzen. Sie sagte: „Ich bin gekommen, um dir eine Frage zu stellen.“
    „Nur zu.“
    „Als du diesen Reportern gesagt hast, du seist in die Stadt gekommen, um die Farce mitzuerleben, welche Farce hast du da gemeint?“
    Er lachte laut auf, wie jemand, der nur selten die Gelegenheit hat, sich über etwas Unerwartetes zu freuen.
    „Genau das mag ich an dir, Dagny. In der Stadt New York leben zurzeit sieben Millionen Menschen. Unter diesen sieben Millionen bist du die Einzige, der es in den Sinn kommt, dass ich nicht über den Scheidungsskandal der Vails gesprochen haben könnte.“
    „Worüber hast du dann gesprochen?“
    „Welche andere Möglichkeit ist dir eingefallen?“
    „Das San-Sebastián-Desaster.“
    „Das ist doch viel amüsanter als der Scheidungsskandal der Vails, nicht?“
    Mit dem feierlichen, gnadenlosen Ton eines Anklägers sagte sie: „Du hast es bewusst, kaltblütig und mit voller Absicht gemacht.“
    „Glaubst du nicht, du solltest besser erst einmal den Mantel ablegen und dich setzen?“
    Sie wusste, es war ein Fehler

Weitere Kostenlose Bücher