Der Streik
dass von den beiden Gestalten, die ihm folgten, der große, schlanke Mann mit dem kupferblonden Haar derjenige war, dem sie applaudierten. Sein Gesicht hatte dieselbe Ausstrahlung wie die Stimme, die sie im Radio gehört hatten: Es wirkte ruhig, selbstbewusst – und unnahbar.
Für Galt war der Ehrenplatz in der Mitte des langen Tisches reserviert worden. Mr. Thompson wartete zu seiner Rechten auf ihn, und der Muskelmann setzte sich geschickt auf den Stuhl zu seiner Linken, ohne seinen Arm loszulassen oder den Druck des Pistolenlaufs zu verändern. Die Juwelen auf den nackten Schultern der Frauen trugen das Glitzern der Kronleuchter in die Schatten der Tische, die bis zu den weit entfernten Wänden dicht gedrängt aufgestellt worden waren. Die strenge schwarz-weiße Kleidung der männlichen Besucher rettete die feierliche, luxuriöse Atmosphäre des Raums vor der Beeinträchtigung durch das Blitzen der Fotoapparate, die Mikrofone und die bereitstehende Fernsehausrüstung. Die Zuschauer waren aufgestanden und applaudierten. Mr. Thompson lächelte und beobachtete Galts Gesicht mit dem gespannten, erwartungsvollen Blick eines Erwachsenen, der auf die Reaktion eines Kindes auf ein außergewöhnlich großzügiges Geschenk wartet. Galt nahm den Beifall sitzend zur Kenntnis, ohne ihn zu ignorieren oder auf ihn zu reagieren.
„Mit dem Applaus, den Sie hören“, schrie ein Radiosprecher in einem Winkel des Raums in ein Mikrofon, „wird John Galt begrüßt, der soeben seinen Platz am Rednertisch eingenommen hat! Jawohl, liebe Freunde, John Galt höchstpersönlich , wie diejenigen unter Ihnen, die Zugang zu einem Fernseher haben, in Kürze mit eigenen Augen werden sehen können!“
Ich darf nicht vergessen, wo ich mich befinde, dachte Dagny, die im Dunkeln an einem Tisch am Rand des Saales saß, und ballte unter dem Tisch ihre Hände zu Fäusten. Jetzt, da Galt nur zehn Meter von ihr entfernt saß, fiel es ihr schwer, eine doppelte Wahrnehmung der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Ihr war, als könnte es weder Gefahr noch Schmerz geben, solange sie sein Gesicht vor Augen hatte – doch zugleich spürte sie ein eisiges Grauen, wenn sie diejenigen anschaute, die ihn in ihrer Gewalt hatten, und wenn sie sich die blinde Irrationalität des Schauspiels bewusst machte, das sie inszenierten. Sie bemühte sich, ihre Gesichtsmuskeln ruhig zu halten, sich nicht durch ein glückliches Lächeln oder einen panischen Schrei zu verraten.
Sie fragte sich, wie seine Augen es geschafft hatten, sie unter den vielen Zuschauern zu entdecken. Sie hatte das kurze Innehalten seines Blickes bemerkt, das sonst niemandem hatte auffallen können; der Blick war mehr gewesen als ein Kuss, er war wie ein anerkennender und ermutigender Händedruck gewesen.
Er schaute kein zweites Mal in ihre Richtung. Sie konnte sich nicht dazu zwingen wegzuschauen. Es war verblüffend, ihn in Abendgarderobe zu sehen, und noch verblüffender, dass er sie mit solcher Selbstverständlichkeit trug; an ihm sah sie aus wie eine Ehrenuniform; seine Erscheinung wäre einem Bankett in jener vergangenen Zeit angemessen gewesen, in der ihm eine Auszeichnung der Industrie verliehen worden wäre. Mit einem Anflug von Wehmut erinnerte sie sich an ihre eigenen Worte: Feierlichkeiten sollten denen vorbehalten sein, die etwas zu feiern haben.
Sie wandte sich ab. Sie bemühte sich, ihn nicht zu häufig anzuschauen, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Tischnachbarn auf sich zu ziehen. Zusammen mit denen, die Galt gegen sich aufgebracht hatten – Dr. Ferris und Eugene Lawson –, war sie an einen Tisch gesetzt worden, der zwar für die übrigen Personen im Raum gut zu sehen war, aber nicht im direkten Blickfeld Galts lag.
Ihr Bruder Jim, stellte sie fest, war näher an der Bühne platziert worden; sie konnte sein mürrisches Gesicht zwischen den nervösen Gestalten von Tinky Holloway, Fred Kinnan und Dr. Simon Pritchett erkennen. Die gequälten Gesichter, die am Rednertisch aufgereiht saßen, versuchten vergeblich zu verbergen, dass sie aussahen, als durchlebten sie ein Martyrium. Im Gegensatz zu ihnen strahlte Galts Gesicht eine solche Ruhe aus, dass sie sich fragte, wer hier der Gefangene und wer der Gebieter war. Ihr Blick glitt langsam seinen Tisch entlang, von einem zum anderen: Mr. Thompson, Wesley Mouch, Chick Morrison, einige Generäle, einige Parlamentsabgeordnete sowie Mr. Mowen, der absurderweise als Stellvertreter des Großunternehmertums eingeladen worden war, um Galt zu
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