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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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hatten, die Gleise entlangzugehen. Er neigte den Kopf und ließ ihn lange gesenkt.
    Sie streckte die Hand aus. „Auf Wiedersehen, Eddie.“
    Er drückte ihre Hand fest, ohne auf seine Finger zu blicken. Er schaute ihr ins Gesicht.
    Er wandte sich zum Gehen, drehte sich dann jedoch noch einmal nach ihr um und fragte mit leiser, ruhiger Stimme, weder flehend noch verzweifelt, sondern um bewusst und klar ein langes Kapitel in seinem Leben abzuschließen: „Dagny … hast du gewusst … was ich dir gegenüber empfunden habe?“
    „Ja“, sagte sie sanft, und in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie es schon seit Jahren wortlos gewusst hatte. „Ich habe es gewusst.“
    „Auf Wiedersehen, Dagny.“
    Ein unterirdischer Zug ließ die Wände des Gebäudes leise erbeben und übertönte das Geräusch der Tür, die sich hinter ihm schloss.
    Es schneite am nächsten Morgen, und die geschmolzenen Schneeflocken waren wie eine eisige, schneidende Berührung auf den Schläfen Dr. Robert Stadlers, als er in Richtung der königlichen Suite die langen Flure des Wayne-Falkland-Hotels durchschritt. Er wurde von zwei stämmigen Männern aus der Abteilung des Gemeinschaftsgeistbeauftragten flankiert, die keinen Hehl daraus machten, auf welche Weise sie den Gemeinschaftsgeist gerne stärken würden, wenn sich nur eine entsprechende Gelegenheit böte.
    „Vergessen Sie nicht, was Mr. Thompson angeordnet hat“, sagte einer der beiden verächtlich. „Wenn Sie auch nur einen falschen Ton von sich geben, wird es Ihnen leid tun, mein Freund.“
    Es war nicht der Schnee auf seinen Schläfen, dachte Dr. Stadler. Es war vielmehr ein brennender Druck, den er seit der Szene am Vorabend verspürte, als er Mr. Thompson angeschrien hatte, dass er John Galt nicht gegenübertreten könne. Er hatte in blinder Panik geschrien, hatte die ungerührten Gesichter, die ihn umgaben, angefleht, ihn nicht dazu zu zwingen, und geschluchzt, er werde alles tun, nur das nicht. Doch die Gesichter hatten sich nicht dazu herabgelassen, mit ihm zu streiten oder ihm gar zu drohen; sie hatten ihm lediglich Anordnungen gegeben. Er hatte eine schlaflose Nacht verbracht, in der er sich gesagt hatte, dass er nicht gehorchen werde; doch jetzt lief er auf diese Tür zu. Der brennende Druck auf seinen Schläfen und die leichte Übelkeit und das Schwindelgefühl angesichts der ihm unwirklich erscheinenden Situation rührten daher, dass es ihm nicht gelang, das Gefühl wiederzuerlangen, dass er Dr. Robert Stadler war.
    Er nahm das metallene Schimmern der Bajonette in den Händen der Wachposten an der Tür sowie das Geräusch eines sich im Schloss drehenden Schlüssels wahr. Dann merkte er, wie er durch die Tür ging, die hinter ihm wieder verriegelt wurde.
    Auf einem Fensterbrett am anderen Ende des langgestreckten Zimmers saß John Galt, eine große, schlanke Gestalt in Hemd und Hosen, ein Bein schräg auf den Boden hinabgestreckt, das andere angewinkelt, seine Hände um sein Knie geschlossen, seinen Kopf mit dem von der Sonne hellblond gesträhnten Haar gegen den grauen Himmel im Hintergrund erhoben – und mit einem Mal sah Dr. Stadler die Gestalt eines Jungen vor sich, der bei ihm zu Hause, in der Nähe des Campus der Patrick-Henry-Universität auf dem Geländer der Veranda saß, während die Sonne auf das kastanienbraune Haar seines gegen einen blauen Sommerhimmel erhobenen Kopfes schien, und er hörte die leidenschaftliche Intensität seiner eigenen Stimme, die vor zweiundzwanzig Jahren gesagt hatte: „Der einzige heilige Wert in der Welt, John, ist der menschliche Verstand, der unversehrte menschliche Verstand …“ – und er rief jenem Jungen durch den Raum hindurch und über die Jahre hinweg entgegen: „Ich konnte nichts dafür, John! Ich konnte nichts dafür!“
    Er griff nach der Kante eines Tisches, der zwischen ihnen stand, als Stütze und schützende Barriere, obwohl die Gestalt auf dem Fensterbrett sich nicht gerührt hatte.
    „Ich habe dich nicht in diese Situation gebracht!“, rief er. „Ich wollte es nicht! Ich konnte nichts dafür! Das hatte ich nicht beabsichtigt! … John! Ich bin nicht daran schuld! Das bin ich nicht! Ich hatte gegen sie nie eine Chance! Ihnen gehört die Welt! Sie haben mir keinen Platz darin gelassen! … Was bedeutet ihnen schon Vernunft? Was bedeutet ihnen Wissenschaft? Du hast keine Ahnung, wie mörderisch sie sind! Du verstehst sie nicht! Sie denken nicht! Sie sind geistlose Tiere, getrieben von irrationalen Gefühlen, von

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