Der Streik
musste, die ihr ringsum in den Straßen begegneten, dachte Dagny. Gleichwohl fühlte sie sich dadurch der Stadt nicht entfremdet: Es gab ihr sogar zum ersten Mal das Gefühl, dass die Stadt ihr gehörte und sie sie liebte, dass sie sie nie zuvor so geliebt hatte wie in diesem Augenblick, mit einem so persönlichen, feierlichen und zuversichtlichen Besitzerstolz. Die Nacht war ruhig und klar. Sie blickte in den Himmel; sie war in einer eher feierlichen als freudigen Stimmung, und doch ahnte sie eine künftige Freude – ebenso war die Luft eher windstill als warm, und doch lag darin der Hauch eines noch fernen Frühlings.
Geht mir verdammt noch mal aus dem Weg, dachte sie, aber nicht grollend, sondern beinahe belustigt, mit einem Gefühl der Losgelöstheit und Erlösung; sie meinte die Passanten, den Verkehr, wenn er ihre eiligen Schritte behinderte, und jede Furcht, die sie in der Vergangenheit verspürt haben mochte. Vor weniger als einer Stunde hatte sie gehört, wie er diesen Satz geäußert hatte, und seine Stimme schien noch in den Straßen widerzuhallen und in ein leise angedeutetes Lachen zu münden.
Sie selbst hatte im Ballsaal des Wayne-Falkland-Hotels triumphierend gelacht, als sie ihn den Satz hatte äußern hören. Sie hatte mit der Hand vor dem Mund gelacht, sodass das Lachen nur in ihren Augen lag – und in seinen, als er sie geradewegs anschaute und sie wusste, dass er es gehört hatte. Sie hatten einander eine Sekunde lang angeschaut, über die Köpfe der nach Luft ringenden, kreischenden Menge hinweg; über das Getöse der Mikrofone hinweg, die zertrümmert wurden, obwohl der Betrieb sämtlicher Sender sofort eingestellt worden war; über den Krach von Gläsern hinweg, die zersprangen, als Tische umfielen, weil einige der Gäste zu den Ausgangstüren stürzten.
Dann hatte sie gehört, wie Mr. Thompson, der wild gestikulierend auf Galt zeigte, rief: „Bringt ihn in sein Zimmer zurück, aber bewacht ihn mit eurem Leben!“ Die Menge hatte einen Gang freigemacht, als drei Männer ihn hinausführten. Mr. Thompson schien einen Augenblick lang einen Zusammenbruch zu erleiden, denn seine Stirn fiel auf seinen Arm, doch dann riss er sich zusammen, sprang auf, machte seinen Gefolgsleuten geistesabwesend ein Zeichen, ihm zu folgen, und eilte durch einen nicht öffentlichen Seitenausgang hinaus. Niemand gab den Gästen Erklärungen oder Anweisungen: Einige flüchteten blindlings, andere blieben sitzen und wagten es nicht, sich vom Fleck zu rühren. Der Ballsaal war wie ein Schiff ohne Kapitän. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge und folgte Mr. Thompson und seinen Leuten. Niemand versuchte sie aufzuhalten.
Sie fand sie dicht zusammengedrängt in einem kleinen privaten Arbeitszimmer: Mr. Thompson hatte sich in einen Sessel fallen lassen und hielt den Kopf in beiden Händen, Wesley Mouch stöhnte, Eugene Lawson schluchzte wie ein zorniges, unartiges Kind, und Jim beobachtete die anderen mit sonderbar erwartungsvoller Aufmerksamkeit. „Ich habe es Ihnen gesagt!“, schrie Dr. Ferris. „Ich habe es Ihnen doch gesagt, oder etwa nicht? Das haben Sie nun von Ihrer ‚gewaltlosen Überzeugungsarbeit‘!“
Sie blieb an der Tür stehen. Sie schienen ihre Gegenwart zwar zu bemerken, schenkten ihr aber keine Beachtung.
„Ich lege mein Amt nieder!“, brüllte Chick Morrison. „Ich lege mein Amt nieder! Ich habe die Nase voll! Ich weiß nicht, was ich der Nation sagen soll! Ich kann nicht denken! Ich werde es gar nicht erst versuchen! Es hat sowieso keinen Zweck! Ich konnte nichts dafür! Mir werden Sie nicht die Schuld zuschieben! Ich habe mein Amt niedergelegt!“ Er machte mit den Armen eine unverständliche Geste, die entweder Ratlosigkeit ausdrücken oder ein Abschiedsgruß sein sollte, und rannte aus dem Zimmer.
„Er hat in Tennessee ein mit Vorräten ausgestattetes privates Versteck“, sagte Tinky Holloway nachdenklich, als hätte auch er eine ähnliche Vorsichtsmaßnahme getroffen und als fragte er sich, ob jetzt die Zeit gekommen war, sie zu nutzen.
„Er wird sein Versteck nicht lange halten können, falls er überhaupt dort ankommt“, sagte Mouch. „Angesichts der Räuberbanden und bei dem Zustand des Verkehrssystems …“ Er breitete die Hände aus und sprach den Satz nicht zu Ende.
Sie wusste, welche Gedanken ihnen jetzt durch den Kopf gingen; sie wusste, dass diese Männer nun allmählich begriffen, dass sämtliche persönlichen Fluchtvorkehrungen, die sie für sich getroffen haben
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