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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayn Rand
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einschließlich des Armbands aus Rearden-Metall, das sie in der Außenwelt verdient hatte, und des Fünfdollargoldstücks, das sie im Tal verdient hatte.
    Es fiel ihr leicht, die Wohnung zu verlassen und die Tür abzuschließen, obwohl sie wusste, dass sie sie vermutlich nie wieder öffnen würde. In ihrem Büro erschien es ihr einen Augenblick lang schwerer. Niemand hatte sie eintreten sehen. Das Vorzimmer ihres Büros war leer, und das große Taggart Building wirkte ungewöhnlich ruhig. Einen Augenblick lang stand sie da, schaute sich im Büro um und blickte auf all die Jahre zurück, die es enthielt. Dann lächelte sie – nein, es war nicht allzu schwer, dachte sie. Sie öffnete ihren Safe und nahm die Dokumente heraus, deretwegen sie gekommen war. Sonst gab es nichts, was sie aus ihrem Büro mitnehmen wollte – abgesehen von dem Bild Nathaniel Taggarts und der Karte mit dem Schienennetz der Taggart Transcontinental. Sie zerbrach die beiden Rahmen, faltete das Bild und die Karte und schob sie in ihren Koffer.
    Sie war im Begriff, den Koffer abzuschließen, als sie eilige Schritte hörte. Die Tür flog auf, und der Chefingenieur eilte herein. Er zitterte; sein Gesicht war verzerrt.
    „Miss Taggart!“, rief er. „Gott sei Dank, dass Sie hier sind, Miss Taggart! Wir haben Sie überall gesucht!“
    Sie antwortete nicht, sondern schaute ihn nur fragend an.
    „Miss Taggart, haben Sie es schon gehört?“
    „Was?“
    „Dann wissen Sie es noch nicht! Oh Gott, Miss Taggart, es ist … Ich kann es nicht glauben, ich kann es noch immer nicht glauben, aber … Oh Gott, was sollen wir nur tun? Die … die Taggart Bridge ist weg!“
    Sie starrte ihn an, unfähig, sich zu rühren.
    „Sie ist weg! In die Luft gejagt! Offensichtlich innerhalb einer einzigen Sekunde in die Luft gejagt! Niemand weiß genau, was geschehen ist – aber es sieht so aus … man glaubt, irgendetwas sei bei Projekt X schiefgelaufen, und … es sieht aus wie das Ergebnis dieser Schallwellen, Miss Taggart! In einem Umkreis von hundert Meilen kommen wir nirgendwohin durch! Es ist nicht möglich, es kann nicht möglich sein, aber es sieht so aus, als wäre alles innerhalb dieser Zone ausgelöscht worden! … Wir bekommen keine Antwort! Niemand bekommt eine Antwort – weder die Presse oder die Radiostationen noch die Polizei! Wir sind noch dabei, die Lage zu prüfen, aber die Berichte, die uns aus dem Randgebiet jenes Umkreises erreichen, sind …“ Ihn schauderte. „Nur eines ist sicher: Die Brücke ist weg! Miss Taggart! Wir wissen nicht, was wir tun sollen!“
    Sie stürzte an ihren Schreibtisch und ergriff den Telefonhörer. Ihre Hand hielt auf halbem Weg zu ihrem Ohr inne. Dann bewegte sie langsam und schwerfällig ihren Arm, um den Hörer wieder aufzulegen. Noch nie hatte etwas sie so viel Kraft gekostet. Ihr schien es, als nähme diese Bewegung viel Zeit in Anspruch, als müsste ihr Arm sich gegen einen atmosphärischen Druck stemmen, dem kein menschlicher Körper gewachsen war. Und in diesen wenigen Augenblicken, in der Stille eines rasenden Schmerzes, wusste sie, was Francisco in jener Nacht vor zwölf Jahren gefühlt hatte – und was ein Sechsundzwanzigjähriger gefühlt hatte, als er einen letzten Blick auf seinen Motor warf.
    „Miss Taggart!“, rief der Chefingenieur. „Wir wissen nicht weiter!“
    Der Telefonhörer klackte leise, als sie ihn wieder auf die Gabel legte. „Ich auch nicht“, antwortete sie.
    In diesem Augenblick wusste sie, dass es vorbei war. Sie hörte ihre Stimme, die den Mann anwies, weitere Informationen einzuholen und ihr später wieder Bericht zu erstatten – dann wartete sie, bis das Geräusch seiner Schritte im Flur verhallt war.
    Als sie ein letztes Mal durch die Halle des Terminals lief, blickte sie zum Standbild Nathaniel Taggarts auf – und dachte an ein Versprechen, das sie gegeben hatte. Auch wenn es jetzt nur symbolischen Wert hatte, dachte sie, so war es doch die Art von Abschied, die Nathaniel Taggart verdiente. Sie hatte kein anderes Schreibgerät zur Hand, also nahm sie den Lippenstift aus ihrer Tasche, lächelte das marmorne Gesicht des Mannes an, der diese Geste verstanden hätte, und brachte ein großes Dollarzeichen auf dem Sockel unterhalb seiner Füße an.
    Sie war als Erste an der Straßenecke zwei Blocks östlich des Eingangs zum Terminal. Während sie wartete, nahm sie die ersten Anzeichen der Panik wahr, die bald die Stadt im Würgegriff haben würde: Autos fuhren zu schnell, manche

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