Der Streik
Handlungen, Wünsche, Entscheidungen und Träume zielten. Dies waren das Wesen und die Methode der Rebellion gegen das Dasein und der unbestimmten Suche nach einem namenlosen Nirwana. Sie wollten nicht leben; sie wollten seinen Tod.
Das Grauen, das sie verspürte, war lediglich ein kurzer Stich, wie bei einem Perspektivwechsel: Sie begriff, dass die Subjekte, die sie für Menschen gehalten hatte, keine Menschen waren. Was blieb, war ein Gefühl der Klarheit, einer abschließenden Antwort und der Notwendigkeit zu handeln. Er war in Gefahr. In ihrem Bewusstsein blieben nun weder Zeit noch Raum, sich über die Taten von Unmenschen zu empören.
„Wir müssen sicherstellen“, flüsterte Wesley Mouch, „dass niemand jemals davon erfährt …“
„Niemand wird davon erfahren“, murmelte Ferris mit ebenso vorsichtiger Verschwörerstimme. „Es ist ein geheimes, freistehendes Bauwerk auf dem Gelände des Instituts … Schalldicht und weit genug abseits gelegen … Nur einige wenige Mitarbeiter haben es je betreten. …“
„Wenn wir hinfliegen würden …“, sagte Mouch, brach aber jäh ab, als hätte er in Ferris’ Gesicht eine Warnung gelesen.
Sie sah, dass Ferris seinen Blick auf sie richtete, als hätte er sich mit einem Mal ihrer Gegenwart erinnert. Sie hielt seinem Blick stand und setzte eine gleichgültige Miene auf, als hätte sie weder richtig zugehört noch irgendetwas begriffen. Dann drehte sie sich langsam um, als hätte sie bloß verstanden, dass hier eine vertrauliche Unterredung stattfand, deutete ein Schulterzucken an und verließ den Raum. Sie wusste, dass sie über den Punkt hinaus waren, an dem sie sich über sie Gedanken machen würden.
Sie ging mit derselben gemächlichen Gleichgültigkeit durch die Flure und den Ausgang des Hotels. Doch sobald sie einen Block entfernt um eine Ecke gebogen war, warf sie den Kopf hoch, und die Falten ihres Abendkleids schlugen wie ein Segel gegen ihre Beine, als ihre Schritte sich schlagartig beschleunigten.
Und nun, während sie durch die Dunkelheit eilte und ihr einziger Gedanke war, dass sie eine Telefonzelle finden musste, stieg ein neues Gefühl unbezwinglich in ihr auf, jenseits ihrer unmittelbaren Anspannung angesichts der Gefahr und Sorge: Es war das Freiheitsgefühl einer Welt, die niemals hätte lahmgelegt werden müssen.
Sie sah einen Lichtschein auf dem Gehweg, der aus dem Fenster einer Bar fiel. Niemand beachtete sie weiter, als sie durch den halbleeren Raum ging: Die wenigen Gäste warteten und flüsterten noch angespannt vor dem leeren, blau flimmernden Bildschirm eines Fernsehgeräts.
Sie stand in der engen Telefonzelle, als wäre es die Kabine eines Schiffes, das im Begriff war, die Fahrt zu einem anderen Planeten aufzunehmen, und wählte OR 6-5693.
Die Stimme, die sofort antwortete, war diejenige Franciscos. „Hallo?“
„Francisco?“
„Hallo, Dagny. Ich habe mit deinem Anruf gerechnet.“
„Hast du die Radiosendung gehört?“
„Ja, das habe ich.“
„Sie wollen ihn jetzt zum Aufgeben zwingen.“ Sie sprach im Ton eines sachlichen Berichts. „Sie beabsichtigen, ihn zu foltern. Sie haben irgendeinen Apparat, den sogenannten Ferris-Persuasor, in einem freistehenden Bauwerk auf dem Gelände des State Science Institutes. Das ist in New Hampshire. Es war die Rede davon, dort hinzufliegen. Sie meinen, sie würden ihn binnen drei Stunden auf Sendung bringen.“
„Ich verstehe. Rufst du von einer öffentlichen Telefonzelle aus an?“
„Ja.“
„Du trägst noch deine Abendgarderobe, nicht wahr?“
„Ja.“
„Nun hör mir gut zu. Geh nach Hause, zieh dich um, pack einige Sachen, die du brauchst, nimm deinen Schmuck und alle übrigen Wertsachen, die du tragen kannst, und warme Kleidung mit. Wir werden später keine Zeit dafür haben. Wir treffen uns in vierzig Minuten an der nordwestlichen Ecke der Kreuzung zwei Straßen östlich vom Haupteingang des Taggart Terminals.“
„In Ordnung.“
„Bis gleich, Slug.“
„Bis gleich, Frisco.“
In weniger als fünf Minuten stand sie im Schlafzimmer ihrer Wohnung und riss sich ihr Abendkleid vom Leib. Sie ließ es mitten auf dem Boden liegen wie die abgelegte Uniform einer Armee, in der sie nicht mehr diente. Sie zog ein dunkelblaues Kostüm an und – sie erinnerte sich an Galts Worte – einen weißen, hochgeschlossenen Pullover. Sie packte einen Koffer und eine Umhängetasche, die sie über der Schulter tragen konnte. Se legte ihren Schmuck in eine Ecke der Tasche,
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