Der stumme Ruf der Nacht
genommen.«
Fiona warf ihr einen ungläubigen Blick zu, und Courtney wusste, dass sie nun gehen musste. Sie ergriff ihre Tasche und sprang aus dem Wagen.
»Bitte, geh noch nicht gleich in die Arbeit. Erst müssen wir uns um diese Sache kümmern.«
»Ich kümmere mich drum«, sagte Courtney mit gespielter Sicherheit. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
Will musterte die Ansammlung von Polizisten, die um einen Konferenztisch saßen, abgestandenen Kaffee tranken und ihre Theorien über den Alvin-Mord austauschten. Webb schien ihm fähig, aber überarbeitet. Cernak hatte viel Erfahrung, doch bereiteten ihm die politischen Begleitumstände anscheinend mehr Sorgen als der Fall selbst. Und schließlich Nathan Devereaux, der zwar offiziell abgezogen worden war, aber sich noch intensiver als Will mit den verschiedenen Spuren befasst hatte.
»Das alles passt einfach nicht zusammen«, verteidigte Devereaux einen Standpunkt, den er schon den ganzen Vormittag vertreten hatte.
»Das passt alles ganz wunderbar«, hielt ihm Webb entgegen. »Ihr Freund verlässt sie, um zu seiner stinkreichen Ehefrau zurückzukehren. Da wird sie eifersüchtig und legt den Kerl um. Vielleicht wollte sie sich auch umbringen. Aber dann hat sie in der letzten Minute die Nerven verloren.«
»Die Beziehung war schon vor sechs Monaten zu Ende«, sagte Devereaux. »Außerdem hat sie ihn verlassen. Und dazu sein Auto demoliert.«
»Das behauptet sie«, warf Cernak ein. »Alvins Version kennen wir nicht, weil es keinen offiziellen Bericht gibt.«
Devereaux schüttelte den Kopf und erhob sich. Er ging zum Fenster und vergrub beide Hände in den Hosentaschen. Devereaux hatte bereits berichtet, was ihm Alvin in jener dramatischen Januarnacht erzählt hatte. Das alles stimmte mit Courtneys Aussagen über die Beziehung überein. Aber Cernak schien von nichts
wissen zu wollen, was dem ersten Augenschein widersprach.
Will machte ihm deswegen keinen Vorwurf. Wenn der Fall vor Gericht kam, würde jede Einzelheit von den Medien ausgeweidet, von den Ermittlungen des Strafverteidigers ganz zu schweigen. Deswegen suchte Will vor allem nach belastbaren Beweisen.
Er sah Webb an. »Und wie steht’s mit dem Pfefferspray? Der ganze Himmel des Buick und die Rückbank sind voll davon.«
»Vielleicht hat sie das Ganze inszeniert«, antwortete Webb. »Sie hat einen Killer beauftragt und die Sache wie einen Raubüberfall aussehen lassen.«
»Und sich zuletzt ihre eigene Pistole untergeschoben?«, fauchte Devereaux quer durch den Raum.
»Und was ist mit dem Speichel?«, fügte Will hinzu. »Hat sie den ebenfalls selbst mitgebracht?«
Webb schlürfte den Kaffee aus seinem Styroporbecher. Cernak blickte auf die weiße Tafel mit der Liste ihrer Beweise.
Speichelspuren gab es sowohl auf dem Boden des Rücksitzes als auch am Griff der Hintertür. Es wäre fantastisch, damit einen Gentest zu machen und das Ergebnis mit den vorhandenen Daten abzugleichen. Aber so ein Test war teuer und wurde normalerweise erst veranlasst, wenn ein Verdächtiger in Haft war, mit dessen Genmaterial man die Probe vergleichen konnte.
Der Speichel war der Schlüssel. Es wäre der praktische Beweis für Courtneys Aussage, dass jemand anderes auf dem Rücksitz gewesen war und sie das Schwein mit dem Pfefferspray erwischt hatte.
»Vielleicht hat ja auch die Ehefrau den Killer bezahlt«, mutmaßte Devereaux. »Ihr kennt die Geschichte: der Mann, der fremdgeht, und seine Geliebte werden gleich in einem Aufwasch entsorgt. Auf sein Einkommen ist sie ja nicht angewiesen.«
Das war eine viel versprechende Theorie, der Will auch bald nachgehen wollte. Indem er nach Lakeway fuhr und sich erkundigte, wie es der trauernden Witwe erging.
»Aber warum lässt sie sich nicht einfach scheiden?«, fragte Webb.
Devereaux zuckte die Schultern. »Vielleicht weil sie ihr Kind so liebt und sich das Sorgerecht nicht teilen will.«
»Das passt auch nicht zusammen«, entgegnete Webb. »Sie liebt ihr Kind und mutet ihm die Ermordung des Vaters zu? Im Auto mit irgendeiner Tussi?«
Bei dieser Titulierung Courtneys zuckte Will zusammen. Er blickte in die Runde in der Hoffnung, dass es niemand bemerkt hatte, aber Devereaux beobachtete ihn.
Nun blickte auch Will zur weißen Tafel, auf der auch die möglichen Verdächtigen aufgelistet waren. »Wie steht’s mit dem Partner in der Kanzlei?«
»Mit welchem?«, wollte Devereaux wissen.
»Alle. Riley. Wilkers. Wir haben freie Auswahl. Auf der Beerdigung schien
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