Der stumme Ruf der Nacht
einen Moment, bis sie von ihrer Beschäftigung aufsah.
»Vielen Dank, Madam, dass Sie so viel Geduld hatten.«
Beim Wort »Madam« zog sie die Augenbrauen hoch,
sagte jedoch nichts. Ihr dunkles Haar fiel jetzt weich und glänzte, und ihre Lippen, die im Park noch blutleer gewirkt hatten, waren nun voll und rot. Sie war nicht eigentlich schön, wirkte durch ihre Art aber sehr beeindruckend.
Er öffnete die zweite Cola-Dose und stellte sie vor sie. Die Dose hatte die gleiche Farbe wie die Strähnen in ihrem Haar.
»Sie gestatten?« Er nahm einen Stuhl und setzte sich neben sie. Sie wirkte überrascht, als hätte sie erwartet, dass er ihr drohen, sie anbrüllen und mit Fragen überhäufen würde.
Während sie einen Schluck nahm, beobachtete sie ihn aufmerksam. Das verwischte Make-up unter ihren Augen war verschwunden. Zu ihren Füßen sah er den Rucksack, den er für sie aus dem Kofferraum ihres Autos geholt hatte, und sogleich wusste er warum. Er selbst hatte ihn durchsucht und außer einem iPod und einem blaugestreiften Bikini eine Menge Schminksachen darin gefunden. Die strassbesetzten Flip-Flops, die ebenfalls im Rucksack gewesen waren, trug sie nun.
»Noch einmal vielen Dank für Ihre Geduld, Madam.« Er holte ein kleines Aufnahmegerät hervor und stellte es auf den Tisch. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das Gespräch aufzeichne. Meine Handschrift ist fürchterlich.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, schaltete er das Gerät an.
Sie setzte die Cola-Dose ab und betrachtete den Rekorder. Er merkte, dass das Gerät sie beunruhigte, aber sie zuckte nur die Achseln. »Ganz wie Sie wollen.«
Er nannte das Datum, die Uhrzeit und ihre beiden Namen. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren glänzenden roten Nägeln zu.
»Fangen wir mal ganz von vorne an.« Er rückte seinen Stuhl näher heran, worauf sie sich ein wenig zurücklehnte. »Um wie viel Uhr sind Sie heute Nachmittag im Park angekommen?«
»Drei Uhr dreißig.«
»Und warum fuhren Sie dahin?«
»David hatte mir eine SMS geschickt – eigentlich mehrere SMS -, um mich dort mit ihm zu treffen.«
»John David Allen.«
»Ja.« Sie schnaubte kurz. »Hören Sie, ich habe das alles schon einem Polizisten namens Marconi erzählt. Sprechen Sie eigentlich nicht miteinander?«
Er ignorierte die Frage. »Sie sind also um drei Uhr dreißig im Park gewesen. Was ist dann passiert?«
Sie legte die Nagelfeile auf den Tisch, holte tief Luft und richtete den Blick auf einen Punkt knapp über seiner Schulter. Unter der Ecke war dort eine Videokamera montiert.
»Ich habe«, sagte sie, »ein, zwei Minuten gewartet, bis er kam.«
»In dem Porsche Cayenne.«
»Ja.«
»Trafen Sie sich öfter dort?«
Zorn blitzte in ihren Augen. »Nein.«
»Haben Sie sich vielleicht schon einmal vorher dort getroffen. Vielleicht nachts?«
»Ich habe ihn überhaupt nicht mehr gesehen, seit wir uns vor sechs Monaten getrennt haben«, fauchte sie.
»Und warum haben Sie sich getrennt?«
Sie blickte auf den Rekorder. »Ich hatte herausbekommen, dass er verheiratet war.«
»Sie haben das nicht gewusst, als Sie sich kennen gelernt haben?«
Sie verschränkte die Arme. »Nein.«
Will musterte sie einen Moment lang genau, um zu sehen, ob sie sich wand. Sie schien verärgert, war aber kühl.
»Mr. Alvin hat Sie also getäuscht? Darüber dass er verheiratet war?«
Höhnisch entgegnete sie: »Er war ein notorischer Lügner. Er sagte, er heißt David und sei wegen eines Falles aus Dallas hier. Ich kannte nicht einmal seinen richtigen Vornamen! Ich hatte auch keine Ahnung, dass er in Austin lebt, bis ich seinen Namen und seine Kanzlei im Internet gefunden habe.«
Will sah sie lange an. Er hatte ein Gespür dafür, wenn Menschen logen. Das hatte er in Afghanistan gelernt, wo die Fähigkeit, Lügen aufzudecken, ebenso überlebenswichtig war wie das Schießen.
Und die Frau vor ihm schien die Wahrheit zu sagen, zumindest jetzt. Er beschloss, das Thema zu wechseln.
»Erinnern Sie sich daran, ober seinen Motor laufen ließ?«
»Den Porsche?« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht. Warum?«
»Die Schlüssel steckten noch. Na, egal. Wo waren wir stehen geblieben? Er parkte neben Ihnen?«
»Er stieg in mein Auto. Und beinahe im selben Moment sprang dieser Typ auf den Rücksitz. Er trug eine
Skimaske. Ich …« Sie räusperte sich. »Ich hatte Todesangst.«
Die Angst in ihren Augen schien echt. Sie hatte olivgrüne Augen, und ihre Haut war hell, aber sonnengebräunt und
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