Der stumme Tod
Scherben sich unter die des Spiegels gemischt haben, zusammen mit den Wassertropfen, die zunächst zwischen den Scherben glitzerten, bevor sie im Teppich versickerten.
Er hat das Gespenst, zu dem er geworden ist, für immer aus diesem Zimmer vertrieben.
Mutter scheint es zu begreifen, sie fragt nicht weiter nach. Ihre Schritte knirschen weiter, auf sein Bett zu.
Er muss geträumt haben, er hat nicht gemerkt, wie sie ins Zimmer getreten ist. Dabei liegt er schon seit fünf Uhr wach und liest. Die Tageszeiten, nach denen die da draußen ihren Tag einteilen, sie bedeuten ihm nichts mehr. Die Tage bedeuten ihm nichts mehr.
Was will sie so früh von ihm, will sie ihn zum Frühstück bitten?
Kaum, sie holt ihn nie zum Essen, das überlässt sie Albert, sie ist nie dabei, wenn er die wenigen Bissen in seinen hungrigen Magen schlingt.
Oder sich für jeden Bissen minutenlang Zeit lässt, wartet, bis der Speichel auch den letzten Rest hat flüssig werden lassen, und den warmen Essensbrei dann hinunterschluckt, die leichte Süße genießend.
Er hat es ausprobiert, das Schlingen und das langsame Kauen, seinen Hunger kann beides nicht vertreiben, seinen ewigen Hunger, das alles andere übertönende Grundrauschen seines Lebens, eines Lebens, das diesen Namen nicht verdient. Er rettet sich von Buch zu Buch, von Traum zu Traum, nur die Zeit dazwischen gilt es zu überstehen, eine Zeit, die nur aus Atmen und Warten und Hungern besteht. Die Zeit ist sein Feind, das hat er bereits gelernt, nur wenn er sich außerhalb der Zeit begibt, kann er glücklich sein.
Allein dafür ist er seiner Mutter böse, dass sie ihn zurück in die Zeit geholt hat.
Er hört ihre Stimme und blickt auf, sich an sein Buch klammernd wie an einen Schatz, den sie ihm zu entreißen droht.
Guten Morgen, mein guter Junge. Weißt du, was für ein Tag heute ist? Sie reicht ihm ihre Hand. Dein Vater hat eine Überraschung für dich! Komm!
Zögernd steht er auf, zu oft schon haben sie ihn gelockt, mit Versprechungen gelockt, letztendlich in Fallen gelockt.
Doch zu widersprechen wagt er nicht. Pass auf!
Sie zieht ihm die Schuhe an, damit er sich nicht schneidet, und wirft ihm seinen Hausmantel über.
Er folgt ihr durch mehrere Türen, sein prächtiges Gefängnis, in dem ewige Dämmerung herrscht, ist riesig. Sie gehen die Treppe hinunter und betreten die große Halle, das Vestibül, in dem selbst seine Mutter klein und verloren wirkt. Ihre Schuhe klackern laut über den Steinboden, während seine Schritte so unhörbar sind, als sei er schon tot, als sei er schon so tot, wie er sich fühlt.
Er erschrickt, als sie die Kellertür öffnet, diese Tür wird sonst nie geöffnet. Sein Großvater, reich geworden durch Aktienhandel, hat eine verwinkelte mittelalterliche Burg an den Wannsee gesetzt, düstere Gotik, wie sie vor dem Krieg beliebt war. Die Kellertür erinnert an eine Kerkertür. Was haben sie vor mit ihm?
Hab keine Angst.
Die Mutter lächelt und nimmt seine Hand, als sie sein Zögern bemerkt, führt ihn langsam, Stufe um Stufe, die Steintreppe hinunter ins Dunkle. Kein Modergeruch, dennoch mag er den Keller nicht, er hat Angst, wie immer hat er Angst vor seinem Vater, vor dessen Strenge, vor dessen Unerbittlichkeit. Will er ihn in sein neues Gefängnis locken? In einen engen, dunklen Kerker, um ihn noch besser überwachen zu können? Dass nicht einmal mehr Mutter ihm heimlich etwas zustecken kann, um sein Leiden zu mildem.
Hab keine Angst, sagt sie jetzt, und seine Angst nimmt zu. Unten angekommen öffnet sie eine Tür, die Tür zu einem dunklen Raum, durch den ein Lichtstrahl flackert.
Mutter nimmt ihn bei den Schultern und schiebt ihn durch die Tür, und er erkennt im Halbdunkel das Gesicht seines Vaters. Dieses Gesicht, das nicht mehr lächeln kann.
Alles Gute zum Geburtstag, mein Junge, sagt die Mutter und nimmt ihn zaghaft in den Arm. Schau, was wir für dich haben.
Er schließt die Augen. Er möchte nicht daran erinnert werden, dass die Zeit vergeht. Dass seine Zeit vergeht. Sie sollen seinen Geburtstag vergessen, sie sollen die Zeit vergessen.
Schau her, sagt der Vater, das ist dein Geburtstagsgeschenk. Und er öffnet die Augen.
Er hört ein leises Surren in der Dunkelheit, und dann sieht er es und weiß mit einem Mal, warum er am Leben bleiben muss.
Eine helle Insel wächst in diesem dunklen Raum, die seinen Blick anzieht wie ein Magnet, die ihn selbst anzieht und in sich hineinzusaugen scheint. Helle Bilder, ein sonnendurchfluteter
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