Der stumme Tod
geschildert hatte. Interessanter waren die persönlichen Aussagen über die Tote. Wenn es tatsächlich Mord sein sollte, dann musste es auch irgendein Motiv geben.
Dass sie keines fänden, war nicht das Problem, stellte Rath schon nach der Lektüre der ersten Aussagen fest. Das Problem war eher, dass es zu viele Motive gab.
Betty Winter war offensichtlich ein regelrechter Drache gewesen. Obwohl sich die Befragten nur einen Tag nach dem schrecklichen Tod der Schauspielerin eher vorsichtig ausdrückten, konnte man deutlich zwischen den Zeilen lesen, dass Betty Winter nicht viele Freunde unter ihren Kollegen gefunden haben konnte. Sie war respektiert, aber nicht gelitten. Einige nahmen kein Blatt vor den Mund, hatten - sich selbst natürlich ausgenommen - erzählt, wer alles die Winter gehasst habe. Die üble Nachrede trieb tolle Blüten, längst nicht alles konnte man für bare Münze nehmen, musste sich immer fragen, wer mit welcher Behauptung wem schaden wollte. Ein nettes Geflecht von Intrigen und Verleumdungen tat sich da auf. Die kleine Familie, wie Bellmann seine Firma genannt hatte, würde Rath noch einmal selbst in Augenschein nehmen, sie konnten nicht allein darauf setzen, dass sie Krempin aufspürten.
Henning hatte der Voss sogar eine kurze Charakterisierung der Toten in die Maschine diktiert. Demnach war Betty Winter als Bettina Zima am 17. Juli 1904 in Freienwalde auf die Welt gekommen. Eine klassische Schauspielerausbildung hatte sie nie durchlaufen, viele Kollegen bescheinigten ihr allerdings eine natürliche Begabung. Die Inflationsjahre hatten sie nach Berlin gebracht, wo sie ihr Glück auf der Varietebühne suchte und schnell in diversen Revuen reüssierte, schon bald auch kleinere Rollen in seichten Theaterstücken ergatterte. 1925 spielte sie ihre erste Filmrolle, damals schon an der Seite des vier Jahre älteren Victor Meisner. Der war es auch, der sie zum Film geholt hatte, nicht etwa Bellmann, wie Rath vermutet hatte. Meisner war damals schon gut im Geschäft, vor allem als Held von Abenteuer- und Kriminalfilmen. An der Seite von Bettina Zima, die sich seit Beginn ihrer Filmkarriere Betty Winter nannte, hatte er auch den Sprung ins romantische Komödienfach geschafft. In den vergangenen fünf Jahren hatten die beiden rund ein Dutzend Streifen zusammen gedreht, waren eines der beliebtesten Liebespaare der Leinwand geworden - was Rath, der Liebesschnulzen nicht ausstehen konnte, völlig entgangen war - und auch privat seit ihrem zweiten Film Fallstricke des Verlangens ein Paar. Diese Informationen stammten nicht allein aus La-Belle-Kreisen, Henning hatte sein Dossier mit Verweisen auf diverse Film- und Klatschzeitschriften gespickt, offensichtlich frönte der Kriminalassistent einer heimlichen Filmleidenschaft. Demnach galten Betty Winter und Victor Meisner, die 1927 geheiratet hatten, ihre jeweiligen Künstlernamen aber beibehielten, als glücklichstes Paar der Filmbranche. Wahrscheinlich schon allein deshalb, weil sie sich nicht nach drei Monaten wieder hatten scheiden lassen.
Jedenfalls sah es so aus, als sei Victor Meisner der Einzige, für den Betty Winters Tod wirklich eine persönliche Tragödie bedeutete. Bei Bellmann hatte Rath von Anfang an den Eindruck gehabt, er trauere seiner Diva, wenn überhaupt, allein aus finanziellen Gründen nach.
Victor Meisner, der Schauspieler und Ehemann, fehlte allerdings auf der Liste der Befragten, er schien gestern noch nicht wieder im Atelier gewesen zu sein, und dass ausgerechnet Plisch und Plum Eigeninitiative gezeigt und ihn privat aufgesucht hätten, das wäre mehr als ein Wunder gewesen. Alle anderen aber hatten sie im Atelier befragt, wo Dressler offensichtlich bereits wieder gedreht hatte - trotz des Todes seiner Hauptdarstellerin. Zeit ist Geld, Rath erinnerte sich an Bellmanns Worte. Oder hatte Oppenberg das gesagt? Nicht einmal einen Tag Trauer hatte der Produzent seinen Leuten gegönnt, wahrscheinlich drehten sie auch heute, jeden Tag nutzend, an dem für das Terra-Atelier Miete gezahlt wurde. Zeit ist Geld ...
Rath musste an seinen Vater und dessen Wahlspruch denken.
Wissen ist Macht. Schön, wenn man alles auf derart einfache Gleichungen reduzieren konnte, das brachte Ordnung in die Welt. Er konnte das nicht. Und er wollte das auch nicht. Rath hatte Angst, die Wirklichkeit dann irgend wann nicht mehr sehen zu können. Und darum ging es doch bei seiner Arbeit: das ans Licht zu bringen, was wirklich geschehen war, so kompliziert,
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