Der stumme Tod
Kronbergs Leute gesichert hatten. Gräf war fleißig gewesen. Der Kriminalsekretär hatte Plisch und Plum sogar noch dazu gebracht, ihre Befragungsprotokolle zu Papier zu bringen.
In Hut und Mantel setzte Rath sich auf Gräfs Schreibtischstuhl und klappte das gerichtsmedizinische Gutachten auf. Er wusste mittlerweile, wie Schwartz seine Texte verfasste, welche Teile er nur überfliegen und welche er genauer lesen musste.
An der Todesursache gab es tatsächlich keinerlei Zweifel: Herzstillstand infolge elektrischer Spannung. Keine inneren Verletzungen, allerdings schwere Verbrennungen im Kopf- und Schulterbereich, insgesamt fünf Frakturen an Schlüsselbein, Oberarm und Elle - und eine Wirbelsäulenverletzung. Kein Zweifel: Hätte Betty Winter überlebt, sie hätte für den Rest ihres Lebens entstellt im Rollstuhl sitzen müssen.
Schwartz hatte die Leiche auch auf Drogen untersucht, doch Betty Winter schien ein anderes Kaliber zu sein als Vivian Franck: keine Spuren von Opiaten, kein Kokain, kein Haschisch. Allerdings eine Leber, die auf häufigeren Alkoholgenuss schließen ließ.
Die Passage zum Mageninhalt der Toten wollte er eigentlich nur überfliegen, doch dann blieb er an einem Wort hängen, das ihn sofort ansprang.
Yangtao.
Ein Fremdkörper inmitten dieses Textes, fremder noch als die immer wieder auftauchenden medizinischen Fachausdrücke, und dennoch weckte das exotische Wort eine Erinnerung in ihm.
Das chinesische Restaurant in Wilmersdorf, hatte das nicht genauso geheißen? Oder warf er hier zwei asiatisch klingende Wörter durcheinander?
Chinesisch war es jedenfalls. Der Doktor hatte ein paar erklärende Worte zu seiner Entdeckung geschrieben. Schwartz liebte es, mit seiner Allgemeinbildung zu glänzen. Und mit seiner Weltläufigkeit. Beides konnte er hier anbringen. Yangtao war demnach eine Frucht aus China, eine etwa hühnereigroße Beere mit einer braunen, dünnen, behaarten und rauen Schale, grünem Fruchtfleisch und dunkelbraunen, kleinen harten Samen. Wohlschmeckend und bekömmlich, wie Doktor Schwartz hinzugefügt hatte, wahrscheinlich um zu zeigen, dass ihm das Beschreiben von bereits Verdautem nichts ausmachte. Und dass er schon einmal eine solche Yangtao gegessen hatte. Im Magen von Betty Winter hatte er die exotische Frucht im Verein mit so banalen Nahrungsmitteln wie Pilzen, Reis und Huhn gefunden und den interessanten Schluss nahegelegt, die Verstorbene habe an ihrem Todestag noch eine chinesische Mahlzeit zu sich genommen.
Auch das war typisch für Doktor Schwartz: Anstatt sich auf die gerichtsmedizinische Untersuchung und deren Fakten zu beschränken, stellte er auch selber gerne Schlussfolgerungen an. Grundsätzlich begrüßte Rath es, wenn die der Kriminalpolizei zugeordneten Dienststellen auch mitdachten, doch Schwartz konnte mitunter eine verdammte Nervensäge sein. Aber so lange er es nur lesen musste und der Doktor ihm keinen Vortrag hielt, konnte er es ertragen.
Der ED hatte die Scheinwerferaufhängung bereits unter die Lupe genommen. Die technische Untersuchung war zu dem Schluss gekommen, dass keine Materialfehler vorlagen. Sämtliche Gewinde waren noch in Ordnung, der Bolzen, den Gräf gefunden hatte, intakt. Er musste von irgendjemandem mit Absicht herausgedreht worden sein.
Und diesen Jemand suchten sie.
Rath griff zum Telefon und ließ sich mit den Fahndern verbinden. Fehlanzeige. Von Krempin immer noch keine Spur. Zwar hatten sich auf den Zeitungsaufruf hin einige Bürger gemeldet, die den Mann auf dem Foto gesehen haben wollten, aber bislang alles falscher Alarm.
Er wandte sich wieder der ED-Mappe zu. Die Kollegen hatten auch die Kleidung der Toten auf Spuren untersucht, das versengte Seidenkleid, sogar Schuhe, Strümpfe und Unterwäsche. Die Pedanterie von Kronbergs Leuten hatte schon etwas Unheimliches. Schritt für Schritt hatten diese Preußen die Vorgaben abgearbeitet; sie hatten Blut gefunden am Kleid von Betty Winter (natürlich ihr eigenes) und mehrere Haare, die nicht von ihr stammten (wahrscheinlich von ihrer Garderobiere oder ihrem Filmpartner). Welchen Aufschluss das in solch einem Fall wohl bringen sollte? In einem Todesfall, der sogar gefilmt worden war!
Dann zog Rath die Mappe mit den Befragungsprotokollen zu sich herüber. Plisch und Plum waren wirklich fleißig gewesen. Rath blätterte durch die Aussagen. Widersprüche fielen ihm keine auf. Den Tod von Betty Winter hatten alle, die ihn gesehen hatten, genau so beobachtet, wie Jo Dressler ihn
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