Der stumme Tod
hektischer Weißkittel mit Dresslers Auftragszettel verschwunden war. Keinem war nach lockerer Unterhaltung zumute, alle wussten, was sie gleich zu sehen bekommen würden: die letzten Minuten einer Schauspielerin. Das erste Mal, dass Rath jemanden wirklich auf der Leinwand sterben sehen würde. Er war überzeugt, dass das weitaus weniger pathetisch vonstatten gehen würde, als er es sonst aus dem Kino kannte.
Endlich kam der Laborant mit zehn Filmdosen unterm Arm zurück. Winkler kontrollierte die Blechdosen kurz und zog eine aus dem Stapel. »Das muss sie sein«, sagte er.
»Wir brauchen einen Vorführraum«, sagte Dressler.
Der Mann im weißen Kittel nickte. »Selbstverständlich.«
Wenig später saßen sie in einem kleinen, völlig abgedunkelten Raum. Rath hatte neben dem Regisseur Platz genommen und zündete sich erst einmal eine Overstolz an, als er den in die Armlehne integrierten Aschenbecher entdeckte. Er hatte sein altes Tagespensum an Zigaretten schon fast wieder erreicht. Winkler bediente den Projektor selbst, den Mitarbeiter des Kopierwerks hatten sie fortgeschickt, sie wollten keinen Zeugen. Der Projektor begann zu surren, ein Lichtstrahl schoss durch das Dunkel und ließ den Zigarettenrauch tanzen. Die Rollen zogen an, und kurz darauf sahen die Männer eine Filmklappe auf der Leinwand. Winkler stellte scharf, die Klappe wurde weggezogen, und Rath erkannte Betty Winter im Seidenkleid. Sie atmete heftig, im Hintergrund lehnte Victor Meisner im Abendanzug am Kaminsims. Sein Mund bewegte sich, doch nichts war zu hören.
»Ich dachte, das ist ein Tonfilm«, sagte Rath.
»Der Tonstreifen ist auf einer anderen Rolle«, erklärte Dressler. »Licht und Ton werden getrennt aufgenommen und getrennt entwickelt, erst im Endschnitt kommt beides wieder zusammen. Aber wenn Sie wollen, kann Harry beides parallel laufen lassen.«
Rath wollte. Der Kameramann ließ den Film zurücklaufen bis zu der Stelle, an der die Klappe zusammengeschlagen wurde. Dann holte er eine zweite Rolle, die er in ein Gerät einlegte, auf dem der Klangfilm-Schriftzug prangte.
»Müsste einigermaßen synchron sein«, sagte er schließlich und ließ den Film wieder laufen.
»Du musst laut stellen«, sagte Dressler.
Winkler drehte an einem Knopf, es kratzte, und dann hörten sie wieder Dresslers Stimme, diesmal aber wie von ferne aus dem Lautsprecher: »Uuunnnd ... bitte!«
Das Atmen der Winter wurde heftiger.
»Habe ich mich da gerade verhört?«, fauchte sie ihren Ehemann an.
Rath verfolgte ein mäßig spannendes Wortgeplänkel zwischen den beiden, dann sagte Betty Winter etwas, das zu leise war, als dass Rath es verstehen konnte, und plötzlich, sie hatte schon zu einer Ohrfeige ausgeholt, hörte er Dressler brüllen, und alle Bewegungen froren ein, das Bild wurde schwarz, und dann war wieder die Klappe im Bild.
»Der erste Versuch«, flüsterte Dressler und fläzte sich nervös in seinem Klappsessel. »Jetzt müsste es kommen. «
Rath sah die gleiche Szene wie zuvor, nur dass Betty Winter ihre Wut diesmal viel besser spielte, ja, er war überzeugt, dass sie in diesem Moment wirklich wütend war.
Die wütende Betty näherte sich Victor Meisner, der die ganze Zeit lächelnd am Kamin stand, und die Kamera begleitete sie. Alles, was sie sagte, war perfekt zu verstehen, es war, als stünde sie im Raum.
Wieder holte sie zur Ohrfeige aus, diesmal schlug sie zu, es klatschte tatsächlich, sie hatte Meisner getroffen, dessen Kopf zuckte ein wenig zurück. Im selben Augenblick glaubte Rath, ein leises Pling zu hören. Betty Winter schloss die Augen und schnitt eine verzweifelte Grimasse, dann polterte es laut, die Schatten in ihrem Gesicht verrutschten, und etwas großes Schwarzes riss sie aus dem Bild. Rath hörte Schreie, schrill, irgendwie unwirklich, da schwenkte die Kamera nach unten auf die schreiende Betty Winter. Sie lag am Boden, der Scheinwerfer brannte noch hell, Rauchwolken stiegen dort auf, wo Glas und Stahl glühend heiß auf Haut, Haar oder Seide stießen. Dann traf ein großer Schwall Wasser die schreiende Frau, es zischte, und dann wurde mit einem Schlag alles dunkel.
Von wegen einfach weiterlaufen lassen, dachte Rath und drehte sich zu dem Kameramann um, der ungerührt am Projektor stand, Winkler hatte draufgehalten, als habe er früher einmal für die Wochenschau gearbeitet. Oder als Pressefotograf. Spanner-Instinkt.
Rath schaute Dressler an, der schien Ähnliches zu denken. Jedenfalls kauerte der Regisseur schief
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