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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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verrückt geworden.
    Mutter ist verrückt geworden, und er hat es zu spät bemerkt. Zwei Menschenleben zu spät.
    Er hat es zu spät bemerkt, dennoch hat er sie in den goldenen Käfig gesperrt, in dem sie ihn selbst jahrelang gefangen gehalten haben, der Turmtrakt mit seinen düsteren Räumen und den wunderschönen Ausblicken auf den See, als Verheißung einer Freiheit, die es nicht mehr gibt. Er hat sie dort eingeschlossen, mit Alberts stillem Einverständnis, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet und die Polizei möglicherweise merkt, was sie getan hat. Er hat damit gerechnet, dass sie sich wehrt, dass sie Wutanfälle bekommt, Tobsuchtsanfälle, aber sie hat sich nur hingesetzt und gelacht. Von Anfang an gelacht, so lange, bis ihr Lachen nach nichts Menschlichem mehr klang. Kaum denkt er, sie hört endlich auf, fängt sie wieder an. Sie findet überhaupt kein Ende mehr, ihr Leben besteht nur noch aus diesem wahnsinnigen Lachen, das die Luft im ganzen Haus verpestet, das ihn fürchten lässt, ihr Wahnsinn könne ansteckend sein, durch die Luft getragen von ebendiesem Lachen.
    Jetzt, wo er weiß, dass er handeln wird, fühlt er sich besser. Er hat sich lange vorbereitet, die Schere anfertigen lassen und das Rohr, im anatomischen Institut alle nötigen Handgriffe immer wieder geübt. Jetzt fühlt er sich sicher.
    Den Tee hat er ihr vorhin selbst gebracht, und sie hat ihn brav getrunken und nichts gemerkt.
    Es ist viel einfacher, als er gedacht hat. Sie schläft schon fest, als er wieder nach oben kommt, und der Eingriff ist eine Sache von wenigen Minuten. Das Operationsbesteck bewahrt er immer noch in diesem schwarzen, samtgefütterten Koffer auf, den sie ihm selbst geschenkt hat, vor wenigen Jahren erst. Der eigentliche Eingriff ist schnell gemacht, nur wenige präzise Schnitte.
    Vorher schon hat er Eiswasser bereitgestellt, das er ihr jetzt gibt.
    Ihr Schluckreflex setzte ein, sie trinkt und muss sofort husten, für einen Moment befürchtet er, sie kommt schon zu Bewusstsein, doch dann beruhigt sie sich wieder. Ihr Husten ein gurgelndes Röcheln. Das eiskalte Wasser stillt die Blutung und lindert den Schmerz. Weniger Schmerzen als bei einer Mandelentzündung, sie wird kaum etwas spüren, wenn sie wieder aufwacht.
    Als es so weit ist und sie wach wird, hat er bereits aufgeräumt.
    Alles, was er benutzt hat, wieder gesäubert und weggeräumt, hat sie wieder in ihren Lieblingssessel am Fenster gesetzt. Hat ihr die Karaffe mit Eiswasser hingestellt. Sie muss trinken, langsam und vorsichtig trinken, damit sie wieder schlucken lernt, doch sie rührt das Wasser nicht an.
    Nach einem ersten Blinzeln dämmert sie noch eine Weile vor sich hin, sackt kurz in den Schlaf zurück und schreckt dann auf.
    Sieht ihn neben ihrem Sessel sitzen, und ihr Blick ist von Liebe erfüllt. Obwohl sie weiß, dass er es ist, der sie einsperrt, liebt sie ihn. Das Einzige, was ihr geblieben ist: diese sinnlose Liebe. Für die sie getötet hat. Sinnlos getötet hat.
    Sie richtet sich auf und will etwas sagen. Oder schreien? Oder lachen?
    Was es auch ist: Nichts kommt aus ihrer Kehle, nichts außer einem heiseren Gurgeln.
    Sie schaut überrascht.
    Versucht es noch einmal und fasst sich entsetzt an den Hals, als versuche jemand, sie zu erwürgen.
    Er hat ihr die Stimme genommen, sonst nichts. Ohne diese Stimme, diese Stimme einer Irren, sieht sie fast wieder normal aus, fast wieder wie früher, als sie noch seine Mutter war und keine Verrückte.
    Es ist zu deinem Besten, Mutter, sagt er.
    Die gleichen Worte, die sie früher selbst benutzt hat.
    Der Ausdruck der Überraschung weicht dem des Erkennens. Beinahe lustig, ihre Augen, mit denen sie ihn anschaut. Sie lächelt. Scheint zu verstehen, scheint Gefallen zu finden an dem heiseren Gurgeln, das nun den Platz ihrer Stimme eingenommen hat. Der Blick ihrer Augen sagt alles, sagt: Ich weiß alles, wir beide wissen alles, nur wir beide wissen es - na, wenn das nicht zum Lachen ist, zum Totlachen!
    Und obwohl sie keine Stimme mehr hat, will sie wieder anfangen zu lachen, es rasselt und röchelt und gurgelt, Speichel sprüht aus ihrem Mund und Blut.
    Er hält sich die Ohren zu und geht.
    Soll sie ihr blechernes, stimmloses Gurgeln lachen in ihrem Turmzimmer, schon als er die Tür geschlossen hat, ist es nicht mehr zu hören, und mit jedem Schritt die Treppe hinunter entfernt er sich mehr von dem Wahnsinn.

Kapitel 25
    Oppenberg saß schon am Tisch, als Rath das Restaurant um halb neun betrat. Eine edle

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