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Der stumme Tod

Der stumme Tod

Titel: Der stumme Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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Burg wusste davon, bis auf die grauen Gestalten im Personalbüro, die seine Akte verwalteten.
    Immer noch schlaftrunken taumelte er in die Küche und schüttete das inzwischen kochende Wasser in den Melittafilter. Der Kaffee tröpfelte in die kleine Porzellankanne und begann seinen Duft zu verströmen, einen Duft, der Rath langsam versöhnlicher stimmte.
    Einen Trost hatte er jedenfalls: Schlimmer als vor einem Jahr konnte es kaum werden.
    Damals war er überhaupt nicht vor die Tür gegangen, wie so oft in jenen Tagen, die nur ein Jahr zurücklagen, ihm aber so weit entfernt und fremd erschienen wie das Leben eines anderen, wie der Albtraum eines anderen. Damals, als sein Gesicht in allen Zeitungen zu sehen und er wie ein geprügelter Hund durch die Gegend geschlichen war, den Hut tief in die Stirn gezogen, wenn er sich überhaupt einmal auf die Straße traute.
    Seine Eltern, in deren geräumigem Klettenberger Haus er sich verkrochen hatte, weil er den Karnevalstrubel vor seiner Wohnung am Ring nicht ertragen hatte und auch nach Aschermittwoch einfach dort geblieben war, seine Eltern hatten so getan, als wäre alles gewesen wie immer, nein: als wäre alles wie früher, wie damals, als sie noch alle unter einem Dach lebten, als sie noch vollzählig, als sie noch eine Familie waren. Damals, vor dem Krieg.
    Mutter hatte einen Kuchen gebacken, wie sie es all die Jahre getan hatte, für jedes ihrer Kinder, für Gereon immer den Haselnusskuchen. Der Kuchen hatte schon auf dem Frühstückstisch gestanden, als Rath die Treppe hinunterkam und seine Mutter ihm erwartungsvoll entgegen lächelte. Vater hatte sich natürlich längst ins Präsidium verabschiedet. Um Engelbert Rath einen guten Morgen zu wünschen, musste man früher aufstehen. Der gute Sohn zeigte seinen Widerwillen nicht, als sie ihm ihren Glückwunschkuss auf die Wange drückte und das erste papierknisternde Paket überreichte. Stattdessen öffnete er brav die Geschenke, eine Kiste Zigarren von Vater, ein selbst gestrickter Schal von Mutter. Wie jedes Jahr:
    Zigarren und Selbstgestricktes. Obwohl er die Zigarren nicht rauchte und das Wollzeug niemals trug. Außer bei der Anprobe, wenn er das neue Geschenk anhielt, in den Spiegel schaute und Schön! sagte. Er brachte es nicht fertig, seiner Mutter die Wahrheit zu sagen. Und Vater sowieso nicht. Schon als Kind hatte er das nicht gekonnt, unter Severins wissendem Blick sein Schön! gemurmelt zu allem, was sie ihm in die Hand drückte. Nun war niemand da, nicht einmal Ursula, die hatte sich erst für den Nachmittag angekündigt. Und dann konnte seine Schwester doch nicht kommen, weil ihr dämlicher Mann sie versetzt hatte und sie mit den Kindern festsaß. Das hatte nur zum Rest des Tages gepasst. Kein Mensch hatte sich gemeldet, nichts von Doris, aber damit hatte er ohnehin nicht mehr gerechnet, seit sie die Verlobung gelöst hatte, nichts von den Jungs, die er zum größten Teil schon seit der Schule kannte und die nach dem ersten Artikel über die Schießerei im Agnesviertel nicht einmal mehr die monatliche Skatrunde aufrechterhielten. Nichts, nicht einmal ein Anruf. Von niemandem. Das war's wohl, hatte er gedacht, der Rest der Welt hat dich vergessen.
    Er hatte sich schon damit abgefunden, dass ihm außer seinen Eltern niemand mehr zum Geburtstag gratulierte, da war, spät am Abend, Paul doch noch gekommen. Und zum ersten Mal seit langen Wochen hatte Gereon sich wieder für mehr als eine halbe Stunde vor die Tür getraut. Paul, der Einzige aus der Skatrunde, der ihm die Treue hielt, hatte ihn in ein wartendes Taxi geschubst, und sie waren zum Rudolfplatz gefahren und über die Ringe gezogen, hatten sich in einer Bar nach der anderen einen schönen Rausch angetrunken. Das erste Mal seit den tödlichen Schüssen. Er war Paul heute noch dankbar, dass der ihn aus seiner dunklen Höhle wieder ans Licht der Welt gezerrt hatte. Der abendliche Rausch hatte ihn halbwegs mit dem verkorksten Tag versöhnt. Vielleicht die einzig mögliche Art, Geburtstag zu feiern: sich die Kante geben, um zu vergessen, warum man überhaupt getrunken hatte.
    Rath ging ins Wohnzimmer und legte eine Platte auf. Dann zündete er sich eine Zigarette an, trank in Ruhe seinen Kaffee und lauschte der Musik.
    Was sollte er mit dem heutigen Tag anfangen? Die Wessel-Akten sortieren, den Bericht für Doktor Weiß schreiben, verlockende Aussichten! Er beschloss, sich zur Feier des Tages ein Frühstück im Josty zu spendieren und ging zurück ins Bad, um

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