Der Sturm
Patienten auf dem Lande betreut. Im Krankenhaus von Kristianstad, das wurde Ronny schnell klar, musste sie Kollegen von früher getroffen haben. Oder neue Kollegen, die noch alte Kollegen gekannt hatten. Kein Wunder, dachte Ronny beim Auflegen des Telefons, dass sie so gute Laune hatte. Von wegen »Knockin’ On Heaven’s Door«. Von der Leiche in Visseltofta hatte er nichts erzählt. Sie kann warten, bis morgen, bis die Zeitung kommt.
Acht
Der Fahrer brachte Richard Grenier in einem schwarzen Mercedes CLS zum Campus der Columbia University im Nordwesten Manhattans. Dort, in der Rotunde der Low Library, unter den Büsten antiker Philosophen, las Lorenz Winkler, Professor für die Geschichte der Philosophie an der Universität Berlin, vor geladenem Publikum über das Thema »The Demons of Credit. The Overproduction of Money and the Predictability of Crisis«. »Die Dämonen des Kredits. Die Überproduktion von Geld und die Vorhersagbarkeit der Krise.« Richard gehörte zu den Sponsoren der Veranstaltung. Er betrat die Runde in dem Augenblick, in dem der Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät den Gast vorstellte. Der Dekan war kein großer Redner:
»Es ist selten, dass die Ökonomie hinüberschaut zu den Geisteswissenschaften. Es ist wahrscheinlich an der Zeit, diese Einstellung zu ändern.«
Für Richard war natürlich ein Platz in der ersten Reihe freigehalten worden. Aber er wollte jetzt, da die Veranstaltung begonnen hatte, nicht die lauschende Versammlung durchqueren. Er sah einen letzten freien Stuhl in der hintersten Reihe, ging leise hinüber und setzte sich. Er brauchte eine Weile, bis er, nach den Ereignissen des Nachmittags, seine Aufmerksamkeit auf den Redner richten konnte. Dann betrat Lorenz Winkler das Podium, ein großer Mann mit der Figur eines Radrennfahrers, mit schütterem blonden Haar und einer Brille wie in einem alten Film. Sein deutscher Akzent war nicht zu überhören, aber er sprach flüssig, zum Teil sogar frei, wobei er den Eindruck eines Menschen zu erwecken verstand, der noch im Reden unablässig dachte. Vor allem aber redete er schnell:
»Einen Glauben gibt es«, so begann er, »der in seiner scheinbaren Unerschütterlichkeit alles übertrifft, was seit dem Mittelalter geglaubt wurde: Es ist der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes.«
Was dann folgte, war, in rasendem Tempo, ein historischer Abriss der großen volkswirtschaftlichen Lehren, deren Kernthesen Lorenz Winkler immer so zuspitzte, dass ihre Versprechungen hervortraten – mehr Reichtum, mehr Fortschritt, mehr sozialer Frieden. Jedes Mal wurde klar, in welchem Maße es sich dabei um bloße Glaubenssätze handelte. Und so ging es fort, bis zu den jüngsten Krisen, von denen die Weltwirtschaft erschüttert worden war wie seit den späten zwanziger Jahren nicht mehr. Und jedes Mal kamen diese Krisen und überraschten einen Markt, der darauf alles andere als vorbereitet war. Der Kapitalismus schien, glaubte man Lorenz Winkler, zum Lernen nicht fähig zu sein.
»Je ausschließlicher der Glaube an den Markt wird, je unfähiger wir werden, uns überhaupt etwas anderes vorzustellen als ebendiesen Markt, desto irrationaler funktioniert dieser. Glaube und Katastrophe sind unmittelbar miteinander verbunden.«
Das Publikum hatte aufmerksam zugehört, erschien aber durch das Stakkato einigermaßen überfordert. Lorenz Winkler erhielt freundlichen Beifall, aber eine lebendige Diskussion wollte nicht aufkommen. Es gab ein paar Fragen, die eher pflichtschuldig und vor allem historisch waren, zu Adam Smith und der »unsichtbaren Hand«, hinter der sich doch eine Art Heilslehre verbergen sollte, zu Karl Marx und der Lehre von den Krisen, die das Gegenteil zu beweisen schienen. Vielleicht wollte keiner in der Runde mit dieser Radikalität über die Grundlagen der Weltwirtschaft nachdenken. Vielleicht aber hatte auch nur die Geschwindigkeit des Vortrags die Zuhörer erschöpft. Am Ende waren alle Teilnehmer der Veranstaltung froh, zum Buffet gehen zu dürfen.
Irgendwann, beim zweiten oder dritten Glas Wein, stand Richard Grenier plötzlich neben Lorenz Winkler. »So gründlich will sich hier gar keiner mit sich selber beschäftigen«, sagte Richard, bevor er sich vorstellte, »und außerdem gibt es hier bestimmt einige, die von der Unvorhersehbarkeit der zukünftigen Krisen leben wollen.«
»Ja«, antwortete Lorenz Winkler mit der Schnelligkeit eines Sprinters, »je unvorhersehbarer die Krisen, desto unmöglicher
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