Der Sturm
ganze Hügel und Wälder erwerben wollen. Glauben sie, dass Streichhölzer wieder in Mode kommen? Aber so ist es nicht. Wenn die Welt untergeht, möchten sie irgendwo sitzen können, mit viel Abstand zum Rest der Welt.«
»Und? Das kann man doch verstehen, oder nicht?«
»Verstehen schon, aber es wird nicht so sein. Wie oft haben wir ihn damals zitiert, diesen Satz von Marx, dass alles Feste sich verflüchtige und kein Stein auf dem anderen bleibe. Oder so ähnlich. Aber so ist es. Und dann liegen Leichen herum, und keiner weiß, wo sie herkommen.« Benigna steckte die Haare, die sich während ihrer Rede aus dem Knoten gelöst hatten, wieder zusammen. Ronny kannte diese Bewegung, sie gehörte zu Benigna, seitdem er sie kannte.
»Hauptsache, du blickst da durch«, sagte Ronny und dachte wehmütig, dass Großgrundbesitz und Adel offenbar nicht ausreichen, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Man muss auch Volkswirtschaft und Philosophie studiert haben, am besten in Paris. Und Prophetin sein. Und ich, dachte er weiter, fotografiere zerbeulte Verteilerkästen. Und dann bedauere ich mich selbst, dachte er. Denn im selben Augenblick, da er diesen Gedanken fasste, taten ihm seine Grübeleien leid, weil er merkte, wie sehr er sich selbst leid tat.
»Wie geht es denn deiner Tochter?« Ronny versuchte, der Vorlesung durch eine radikale Wendung zu entkommen. Es gelang.
»Katarina? Sie hat das Internat in England verlassen. Es war nichts für sie. Sie ist jetzt in der letzten Klasse des Gymnasiums, in Älmhult auf der internationalen Schule. Sie kommt gleich zum Essen.« Ronny hatte Katarina nicht oft getroffen. Das Kind war in den Jahren aufgewachsen, als Ronny seine alten Freunde hinter sich gelassen hatte oder als sie von ihm nichts mehr wissen wollten. Er wusste nicht, wer der Vater war, und er wollte es auch nicht wissen.
Benigna hatte den Tisch gedeckt, mit eingelegten Heringen und kaltem Rehrücken und Preiselbeerkompott. Die Tochter kam die Treppe herunter und stand in der Küchentür: »Guten Abend, Ronny«, sagte sie, als begegne sie einem alten Bekannten.
Sie sieht ihrer Mutter immer ähnlicher, dachte Ronny, und sie ist auch genauso groß und schlank. Aber sie wirkt noch kühler, mit ihren hohen Wangenknochen und dem perfekten Bogen der Augenbrauen. Ein wenig sieht sie aus wie Greta Garbo am Anfang von »Ninotschka«, dachte Ronny weiter, in dem Film, in dem Greta Garbo eine sowjetische Kommisarin spielt, die zuerst eiskalt ist und dann ganz weich und verwestlichlicht wird, weil sie sich verliebt. Und diese ganze Veränderung kann der Zuschauer in den Augen Greta Garbos verfolgen, und eigentlich nur da. Katarinas dunkelblaue Augen mit dem Ring um die Iris – sie stammen aber nicht von Benigna. Deren Augen sind eher grau.
Katarina hatte sich offenbar zum Ausgehen angezogen und trug über ihren Jeans eine lange, hellgelbe Seidenjacke mit einem kleinen Stehkragen. Sie sah umwerfend aus, und das wusste sie auch. Man sah es an ihrer selbstbewusst-eleganten Weise, sich zu bewegen.
Noch einmal musste die Geschichte von der Leiche in Visseltofta erzählt werden, und wenn Ronny auch wusste, dass er sich in allem wiederholte, so wurde seine Stimme doch warm, und er erzählte gerne, denn die beiden Frauen hörten ihm zu. Katarina schien völlig fasziniert zu sein. Neugierig fragte sie mehrere Mal nach. Mit den Details zum Dachs wartete Ronny allerdings, bis Benigna die Teller in die Küche zurückgetragen hatte. Aber seine Zuhörerinnen kannten offenbar den Wald und wussten, was mit Tierkadavern passiert in der Wildnis.
»Wenn ein Elch im Wald stirbt, einfach so«, sagte Katarina, »dann liegt da am Morgen danach oft nur das Skelett.«
»Du weißt ja vielleicht morbide Sachen«, sagte die Mutter. »Wo willst du eigentlich noch hin?«
»Zu Wille«, antwortete die Tochter. »Dort treffen sich ein paar Leute aus meiner Klasse.«
»Ist das nicht zu weit, jetzt noch, am Abend?« Benigna schaute zu Ronny: »Kennst du Wilhelm af Sthen?«
»Nur den Namen. Man hört jetzt viel von ihm, wegen seiner Partei.«
»Er hat viel mehr Land als wir«, sagte Katarina, »und ein richtiges Schloss. Magnus fährt, er hat in Amerika Autofahren gelernt.«
»Wille solltest du kennenlernen«, sagte Benigna zu Ronny, »das ist wirklich alter schwedischer Adel. Er ist unglaublich stolz darauf, dass irgendein Ahn von ihm beim Mordanschlag auf König Gustav III . dabei war. Er hasst alles, was Obrigkeit ist, und hätte hundertmal im
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