Der Sturm
gewütet. Oft hatte er alles umgerissen, so dass nur einzelne Stämme wie gebrochene Finger in die Luft ragten. Manchmal hatte er Schneisen gezogen, manchmal jeden zweiten Baum niedergelegt. Nur in den Niederungen sah die Gegend zuweilen noch so aus, wie Ronny sie in Erinnerung hatte. Tausende von schweren Maschinen waren unterwegs, die Traktoren der Bauern, Feuerwehren, Räumpanzer, Kranwagen, die kleinen Kettenfahrzeuge der Elektrizitäts- und Telefongesellschaften, alles blinkte gelb und fuhr ohne Rücksicht auf Verkehrsregeln herum. An den Rändern der Straße türmten sich die beiseitegeräumten Stämme und Äste. Ronny fuhr im Slalom über die Reichsstraße 23 . Im Rundfunk hörte er, dass der Sturm bis jetzt mehr als zwanzig Menschen das Leben gekostet hatte. Einige waren in ihren Häusern erschlagen worden, andere bei Versuchen, Tiere aus zusammenbrechenden Ställen zu retten, wieder andere waren mit ihren Autos auf der Straße gegen gefallene Bäume geprallt. Es sollte noch Tage dauern, bis die Räumtrupps den letzten von der Außenwelt abgeschnittenen Hof erreichen würden. Er kam indessen noch so früh in Osby an, dass er in Systembolaget, dem staatlichen Alkoholgeschäft, sechs Flaschen eines schlichten Rotweines aus dem Chianti und einen Karton Pripps Blå kaufen konnte.
Die Stimmung war gedrückt. Mats Eliasson bemühte sich und war jedem Mitarbeiter gegenüber ausnahmsweise freundlich und mitfühlend. Ronny schlug vor, er könne nicht nur eine Bestandaufnahme der Schäden liefern, die in und um Osby herum entstanden waren, sondern auch eine Reportage über eine Gruppe von Nachbarn, weit draußen auf dem Land, die sich in einer Stunde der Not als Gemeinschaft bewähren. Der Chefredakteur versprach ihm eine halbe Seite. Dann duschte Ronny, packte frische Wäsche ein und fuhr zurück nach Lindesholm.
Als er in Benignas Küche trat, war es dort sehr warm. Ein halbes Dutzend Frauen hatten den Herd in Beschlag genommen und redeten durcheinander, während die Männer in T-Shirts am Tisch saßen und Bier tranken. Jeder hatte die besten Speisen mitgebracht, die sich noch im Kühlschrank oder in der Tiefkühltruhe befunden hatten. Alles muss weg, sonst verdirbt es, hieß es. Ein paar Kinder tobten durch den Raum, aber keiner beachtete sie. Ronny half, Platten mit gedünstetem Zander und gebratener Rehkeule, Backformen mit Kartoffelgratin, Rotkohl und Speck, Schalen mit Preiselbeerkompott und gekochten Äpfeln auf den Tisch zu tragen. Und was immer auf den Tisch gesetzt wurde, wurde mit lauten Begeisterungsrufen begrüßt. Es wurde einer der heitersten Abende, die er je erlebt hatte, mit Schnaps und Trinkliedern, ohne Angst, was der kommende Tag wohl bringen würde. Am Ende waren alle betrunken, doch keiner hatte die Fassung verloren.
Einige der Gäste blieben über Nacht, da ihre Häuser noch kälter waren als die ungeheizten Zimmer im oberen Stockwerk des kleinen Herrengutes. Auch für Ronny hatte Benigna ein Gästezimmer hergerichtet, ein kleines, im hintersten Winkel, unter der Dachschräge. Als er sich ins Bett legen wollte und die Decke zurückschlug, fand er darunter eine heiße Wärmflasche aus dunkelrotem Gummi.
Neununddreißig
»You are kidding.« Richard Grenier schaute die junge Frau am Empfang des Hotels Christian IV in Kristianstad an, als wollte er sie im nächsten Augenblick ohrfeigen.
Die Rezeptionistin blieb höflich: »Selbstverständlich kann ich Ihnen einen Mietwagen besorgen. Aber mit einem Auto schaffen Sie es heute höchstens dorthin, wo Sie herkommen, also nach Malmö. Und auch das geht nur auf der Schnellstraße. Es hat hier einen furchtbaren Sturm gegeben, das wissen Sie ja. Sie kommen nicht durch, die kleineren Straßen sind alle gesperrt, und die nach Norden sowieso. Im Radio werden jede Viertelstunde Warnungen ausgegeben: Die Leute sollen zu Hause bleiben, und ich glaube, sie meinen es ernst.«
Richard trommelte mit den Fingern auf dem Tresen herum, lief bis zur Eingangstüre, schaute hinaus auf die Kreuzung vor dem Bahnhof, die in der Ruhe eines frühwinterlichen Sonntagnachmittags dalag, als wäre sie nie gestört worden, und kehrte an den Empfang zurück: »Sagen Sie mir, wenn die Straßen wieder offen sind. Sie empfangen doch die Nachrichten, oder?«
Die junge Frau nickte: »Selbstverständlich, Sir, ich geben Ihnen Bescheid, sobald ich etwas weiß.« Fluchend zog sich Richard zurück, schimpfte auf dem Weg zum Aufzug laut über die absolute Provinz, verfluchte das
Weitere Kostenlose Bücher