Der Sturm
Hotel, einen zuletzt vor zwanzig Jahren renovierten alten Kasten »in einem scheiß Niemandsland«, und die Schweden im Besonderen und Allgemeinen.
Auf das Zimmer zurückgekehrt, öffnete Richard sein Notebook und suchte auf Google Maps nach Ekeby Gård. »Zwanzig Kilometer, höchstens«, murmelte er und drosch auf die Tasten seines Mobiltelefons. Man hörte jetzt ein Besetztzeichen.
»Fuck«, rief Richard Grenier und wählte eine zweite Nummer. Es klingelte, zweimal, dreimal, dann wurde abgenommen.
»Johan, ich sitze hier fest in deinem Land. Nichts funktioniert mehr.«
»Wo bist du?«
»Tief im Wald. Nördlich von Malmö. Das hier ist schlimmer als jeder Wintersturm in New Hampshire.«
»Ich habe die schwedischen Zeitungen gesehen, im Netz. Sie schreiben, es sei der schlimmste Sturm seit Beginn der Aufzeichnungen gewesen. Über weite Strecken hat es den Wald einfach umgeweht, so war es in Småland und wahrscheinlich auch in deiner Gegend. Es sind Videos zu sehen, von Hubschraubern aufgenommen. Wirklich beeindruckend.«
»Sag mal, ob man hier so ein Ding mieten kann?«
»Was für ein Ding?«
»Einen Hubschrauber.«
»Selbstverständlich kannst du in Schweden einen Hubschrauber mieten. Aber die sind vermutlich alle in der Luft. Viele Dörfer und Höfe sind vom Rest der Welt abgeschnitten. Es gibt ja eine Art allgemeiner Mobilmachung. Du wirst erklären müssen, warum du einen brauchst. Mit Geld ist da wahrscheinlich wenig zu machen, das ist Schweden, nicht Amerika.«
»Fuck.«
»Wo willst du überhaupt hin?«
»That’s none of your business.«
Richard Grenier legte auf und wählte noch einmal die andere Nummer. Wieder ertönte das Besetztzeichen.
»Fuck.«
Vierzig
Von einem Hubschrauber aus der Luft betrachtet, verschwamm das Chaos zu einer weiten, nur von wenigen grauen Linien durchzogenen pastellfarbenen Fläche. Umgestürzte Fichten sind, von oben gesehen, nicht mehr dunkelgrün. Auch hatte der Wald seine geordnete Struktur verloren. Dass die Stämme einmal in einem festen Abstand, bei jungen Bäumen von zwei Metern und bei älteren von vier oder sechs Metern, dagestanden hatten, war nicht mehr zu erkennen. Sie lagen kreuz und quer übereinander, sie hatten sich im Fallen verkeilt und waren miteinander nach unten gedrückt worden. Kaum ein Stamm lag gerade, die meisten hatten Bögen gebildet, waren gebogen und gepresst worden, und die gewaltige Kraft, die sie nach unten gezwungen hatte, war in ihrer Gespanntheit noch sichtbar. Lebensgefährlich war es nicht nur, hier die Motorsäge anzusetzen und sich einen Weg bahnen zu wollen. Auch ohne Eingriff von außen schnellten plötzlich schwere Stämme nach oben, rissen auf, und es kippten die Wurzelteller.
Ein paar Kilometer südlich der Schnellstraße von Malmö nach Kristianstad, nicht weit von Östervång, kämpfte sich am Sonntagnachmittag ein Reparaturtrupp der Elektrizitätsgesellschaft Eon durch dieses Durcheinander. Vor dem Sturm musste hier eine breite Schneise gewesen sein, durch die eine Hochspannungsleitung führte. Jetzt ragten noch einige Masten steil heraus, viele lagen mit geknickten Streben umgestürzt wie groteske Riesentiere, die Kabel waren streckenweise nur auf dem Boden erkennbar, heruntergerissen von fallenden Bäumen und fliegenden Ästen oder Trümmern. Vier Männer waren hier unterwegs, um diese Leitung, die große Teile Nordschonens mit Elektrizität versorgte, zumindest notdürftig zu reparieren. Mit ihrem hellgrauen Hägglunds Bandvagn 206 , dem für die schwedische Armee entwickelten Gespann von zwei kleinen, fest mit einem Gelenk verbundenen und in jedem Terrain einsetzbaren Fahrzeugen auf Gummiketten, waren sie von einem Hubschrauber abgesetzt worden. Angefangen hatten sie in der Morgendämmerung, den ganzen Tag hatten sie gearbeitet, und bisher nur wenige Kilometer geschafft. Bald würde der letzte Rest des Tageslichts verschwunden sein. Es würde Tage dauern, vielleicht eine Woche, bis das Elektrizitätsnetz auch nur provisorisch wiederhergestellt sein konnte.
Der Hägglunds Bandvagn stand auf einem schmalen, hoch überwucherten Wirtschaftsweg, die Arbeiter hatten den Hubschrauber gerufen und packten gerade ihr Werkzeug zusammen, als in der untergehenden, plötzlich durch die tiefen Wolken hindurchstechenden Sonne am unteren Wegrand ein großes Stück glänzend tiefblauen Metalls aufleuchtete. So deutlich war diese Erscheinung, so überraschend dieser Glanz, dass alle vier ihn gleichzeitig wahrnahmen, das Packen
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