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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Johansson
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Bier.
    Während er noch an den Fleischbällchen kaute, schaltete er den Computer ein und öffnete das PDF -Dokument, in dem sich der Scan des Manuskripts aus dem Wagen des deutschen Journalisten verbarg. »The Return of the Responsible Man« stand auf dem Deckblatt, auf Englisch. Der ganze folgende Text jedoch war auf Deutsch verfasst. Ronny begann, das Vorwort zu lesen:
    »Wir waren die Beschenkten«, fing der Text an, »wir waren die Glücklichen, denn die Welt war geordnet. Unsere Eltern hatten ein Gemeinwesen aufgebaut, das man einmal für das Beste halten wird, was in der Politik je erreicht wurde: den Sozialstaat, der seine Bürger schützte, der die Gewalt in Institutionen band, der einem jeden Menschen ein Leben in Frieden und in geordneten Bahnen gewährte. Doch dieser Staat ist Vergangenheit. Denn er barg ein dunkles Geheimnis. Er lebte von der Zukunft, er verzehrte einen Wohlstand, den er nicht selbst hervorbrachte, sondern den erst die Kinder und deren Kinder produzieren sollten. Er lebte auf Kredit. Und dieser Kredit wuchs und wuchs, bis der Staat die Zinsen nicht mehr zahlen konnte und es keine Zukunft mehr gab. So endete das beste Gemeinwesen, das die Geschichte je gesehen hatte. Es blieb nichts mehr davon übrig, denn der Staat war die Schuld, und die Schuld war der Staat. Und der Staat konnte niemanden mehr schützen, weil er selbst des Schutzes bedurft hätte. Es war keiner mehr da, der den Frieden hätte garantieren können, vom Wohlstand gar nicht zu reden. In diesem Augenblick schlug die Stunde des Einzelnen, der Verantwortung für andere Menschen übernahm. Es schlug die Stunde des ›responsible man‹.«
    Was für ein Pathos, was für ein hoher Ton, dachte Ronny, gleich brüllen die Fanfaren, und er blätterte nach vorne. Das Manuskript schien von seiner Vollendung noch weit entfernt zu sein. Ein paar Heldengeschichten waren ausgearbeitet, Fallstudien von »responsible men«, meistens Wissenschaftlern und Unternehmern. Danach hätte es wohl irgendwie ökonomisch und staatstheoretisch weitergehen sollen. Aber außer ein paar losen Stichwörtern gab es dort noch nichts zu lesen. Ronny schaute sich die Helden der Verantwortung genauer an: Richard Grenier war einer von ihnen, der Amerikaner, den er auf Wilhelms Symposium im Spätsommer erlebt hatte. Er kümmere sich, aus freiem Antrieb, wurde im Manuskript betont, um die Sicherheit im Internet. Wo der Staat den Einzelnen nicht mehr schützen könne, wo es keine Polizei mehr gebe, in der anarchischen und potentiell stets verbrecherischen Welt der Datennetze, da gebe es jetzt diesen Mann, der sich um die Sicherheit der Bürger sorge, um ihr Eigentum und um ihre Sparguthaben.
    Ihm hatte der Autor einen Bekannten Ronnys gegenübergestellt, nämlich Wilhelm af Sthen. Er verwende sein Leben darauf, die Freiheit des Einzelnen gegen die Macht der Banken und Konzerne zu verteidigen. Da können sich die beiden doch gleich gegenseitig bekämpfen, dachte Ronny. Aber so war das wahrscheinlich nicht gedacht. Und während er diese Idee fortspann, wurde es Ronny immer unbehaglicher: Wenn bisher keiner wusste, was den deutschen Journalisten zu seiner Reise nach Schweden getrieben hatte – dann müsste man doch zuerst bei Wilhelm nachforschen! Aber er war ja bislang noch nicht einmal gefragt worden! Und als die Polizei es schließlich einmal versucht hatte, war Wilhelm so betrunken gewesen, dass sie es bleiben ließ.
    So konzentriert hatte Ronny die Porträts verfolgt, die Christian Meier den »responsible men« gewidmet hatte, dass er noch nicht versucht hatte, die handschriftlichen Anmerkungen zu lesen, die den gesamten Text begleiteten, rechts neben den Textblöcken, aber auch auf den unbedruckten Rückseiten. Die Handschrift war schwierig zu lesen. Eigentlich bestand sie aus verwischten Druckbuchstaben, die meistens in Gekrakel untergingen. Mühsam buchstabierte sich Ronny durch den Text auf der Rückseite des Deckblatts: »Wenn die Staaten die Gewalt über die öffentliche Ordnung verloren haben«, hob der Text an, »wenn das System so unkontrollierbar geworden ist, dass es zwischen Staat und Privatwirtschaft keine Grenzen mehr gibt, wenn jeder Zufall in der Finanzwirtschaft ganze Nationalökonomien in den Untergang treiben kann – dann entsteht nicht nur ›the responsible man‹, sondern auch der ›warlord‹ der Börsen und Märkte: der Einzelne, der Banden bildet, um die unendliche Verletzlichkeit des Systems für seine privaten Zwecke auszunutzen.

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