Der Sturm
diese Straße, die ständig die Richtung änderte. Aber sie konnten nicht mehr weit vom College entfernt sein, oder? Zunehmend tauchte Müll am Straßenrand auf und stach aus dem Schnee wie zweckentfremdete Wegweiser. Hier eine leere Flasche, dort eine Plastiktüte, aus der leere Bierdosen quollen. Doch immer, wenn er glaubte, sie hätten es geschafft, schloss der Wald sich abermals um sie.
Das erinnerte ihn wieder daran, dass das Tal irgendwann einmal völlig von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war. Bis Bulldozer diese Schneise durch den dichten Wald gefressen hatten. Wie jemand überhaupt auf die Idee gekommen war, so weit in den Bergen ein College zu errichten, war Chris schleierhaft. Er war vielleicht der Einzige aus der Gruppe, der etwas über die mysteriöse Vergangenheit des Grace wusste, aber in den letzten Wochen war der Gedanke, warum er überhaupt hier war, immer mehr in den Hintergrund geraten.
Und heute, an diesem 11. November, wurde er wieder daran erinnert. Er war ein guter Autofahrer und gewohnt, bei solchen Wetterverhältnissen zu fahren. Egal, ob Julia oder die anderen ihm glaubten oder nicht. Hauptsache, er war sich sicher. Etwas war mit den Bremsen nicht in Ordnung gewesen.
Ein Windstoß traf die Gruppe von vorne, Debbie schwankte und im nächsten Moment lag sie wieder im Schnee. Rose half ihr aufzustehen und besorgt stellte Chris fest, dass Debbie immer noch schwieg.
»Was ist, Debbie, hast du dir beim Unfall die Zunge abgebissen? Sollen wir zurückgehen und danach suchen?« Benjamin hatte den gleichen Gedanken wie Chris gehabt.
Keine Antwort. Keine Tränen.
»Lass sie in Ruhe, Ben«, sagte Rose seufzend. »Du siehst doch, dass es ihr schlecht geht.«
Immer noch reagierte Debbie nicht, sondern stolperte weiter vorwärts. Ihr aufgedunsenes Gesicht war so weiß wie die Schneedecke auf der Straße. Nasse Haarsträhnen klebten auf ihrer blutverkrusteten Stirn.
Und dann blieb sie plötzlich abrupt stehen.
»Habt ihr das auch gehört?«, flüsterte sie und ihr Blick starrte gerade aus in das Unterholz des Waldes.
Chris blieb stehen und lauschte. »Da ist nichts.«
»Nur der Wind«, sagte Rose.
»Nein, da ist etwas... ganz sicher!« Debbie streckte ihre Hand aus, die blau vor Kälte war, und deutete nach links in den Wald.
Chris’ Blick folgte ihrer Geste. Die dünnen Stämme der hohen Fichten schwankten weit ausholend hin und her, neigten sich im Gleichtakt von einer Seite auf die andere. Als hätten sie diese Choreografie einstudiert.
Durchgeknallt. Die Tussie war einfach durchgeknallt.
»Weiter«, sagte Chris einfach nur müde.
Schweigend kämpften sie sich durch den Schnee.
Chris, der lange seiner Mutter geglaubt hatte, sein Vater sei einfach nur ein Spinner, war schon seit einigen Monaten bereit, seinem Dad recht zu geben. Hier oben lag etwas in der Luft, was einen in ständiger Unruhe hielt. Etwas, das er nicht benennen, nicht beschreiben konnte. Das Tal war einer der entlegensten Orte der Rocky Mountains. Ein Ort, an den kaum fremde Besucher kamen, und nicht nur, weil das College Privatgelände war, nein eher, als würden sie bewusst das Tal meiden.
Privatgelände.
Noch immer hatte Chris nichts über den eigentlichen Besitzer herausgefunden. Alles, worauf er bei seinen Recherchen gestoßen war, war eine europäische Firma mit Hauptsitz in London. Doch in letzter Zeit hatte er sich kaum noch Gedanken darüber gemacht. Aber jetzt in diesem Moment kamen ihm wieder die Worte seines Vaters in den Sinn.
»Das Tal ist ein Ort, von dem man nicht loskommt.«
»Kein Ort auf der Welt kann einen festhalten, Dad.«
»Oh doch, das Tal hat es geschafft.«
»Du bist schließlich von dort weggegangen.«
»Nicht wirklich, Chris. Du siehst ja selbst, was aus mir geworden ist.«
»Einer der bekanntesten Philosophen auf dem nordamerikanischen Kontinent.«
»Das ist vorbei. Schau, was übrig geblieben ist. Ich bin nur noch eine Hülle.« Chris lief es wieder kalt über den Rücken, wenn er daran dachte, was sein Vater dann gesagt hatte. »Denn meine Seele, Chris, meine Seele ist dort oben geblieben.«
Chris nahm mittlerweile kaum etwas von seiner Umgebung wahr, so sehr war er in Gedanken. Einen Vorteil jedoch hatte das Tal. Man bekam eine neue Chance. Konnte ein anderer, ein neuer Mensch werden. Aber das war nur ein Grund gewesen, weshalb Chris sich entschieden hatte, hierher zu kommen.
Chris kehrte mit den Rufen der anderen in die Wirklichkeit zurück. Ganz unvermittelt war der Wald
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