Der Sturm
zurückgewichen. Vor ihnen öffnete sich das Tal.
»Die Schranke!«, schrie Benjamin.
»Endlich!«, seufzte Rose erschöpft.
Die schneebedeckten Dächer des Collegekomplexes ließen die Landschaft geradezu harmlos erscheinen. Doch von hier aus wurde Chris wieder bewusst, wie groß das Gelände eigentlich war. In der Mitte erstreckte sich das weitläufige Collegegebäude mit dem Glasbau in der Mitte und den beiden vierstöckigen Anbauten zu beiden Seiten. Der Anblick jagte Chris einen Schauer über den Rücken und er brauchte einen Moment, um zu begreifen, woran das lag.
Das College mochte an die hundert Fenster haben.
Aber in keinem davon brannte Licht.
Sobald sie den Wald und den Schutz der Bäume hinter sich gelassen hatten, wurde Chris endgültig bewusst, dass der Sturm das Tal längst erreicht hatte. Der See war hinter einem Vorhang aus Grau und Schwarz verschwunden und jetzt fing es auch wieder an zu schneien, noch heftiger als zuvor.
»Mann, beeilen wir uns. Dieser Wind ist die Hölle.« Benjamins Stimme war kaum zu hören.
Auf dem Weg zum Parkplatz fanden sie nirgends Schutz vor den Böen, die über die freie Fläche fegten. Sie hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Im dichten Schneetreiben konnte Chris die drei Wagen erkennen, sie trugen alle die Aufschrift des Grace College. Die Vans der Security.
Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und er war dazu übergegangen, Debbies Koffer zu tragen, weil die Rollen in dem vereisten Schnee ständig stecken blieben. Als sie am Starbucks vorbeikamen, das in einem der neu errichteten Gebäudeteile lag, die sich an den Südflügel des historischen Trakts anschlossen, zeigte die Uhr 11:25 Uhr. Dann schaltete die Anzeige um: Das Thermometer zeigte minus sieben Grad.
Nur wenige Minuten später waren sie an dem schneebedeckten, zugewehten Gehweg angekommen, der am See entlang und dann hoch zum Haupteingang führte.
Alles war dunkel.
Wenn Chris nicht gewusst hätte, dass sich mindestens zwei Wachleute in dem Gebäude aufhalten mussten, hätte er vermutet, dass dieses Gebäude seit Jahren leer stand. Es strahlte etwas Verlassenes, etwas Trostloses aus und ihm wurde bewusst, dass es einzig und allein die Studenten waren, die das College lebendig machten.
Langsam stiegen sie die Stufen hoch, und je höher sie kamen, desto mulmiger wurde Chris zumute, desto stärker wurde das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Und es lag nicht an dem Wind, der um das Gebäude pfiff. Auch nicht daran, dass nirgendwo ein Licht brannte.
Sondern an etwas völlig anderem.
Und dann begriff er. Der Haupteingang zur Empfangshalle wurde von einem stählernen Sicherheits-Trenngitter abgesperrt, das mit jeder Windböe, die dagegenschlug, laut schepperte.
Und dann hörten sie ein lautes Jaulen, das Chris durch und durch ging. Es klang nach einem Tier, das eingesperrt war.
»Scheiße, die haben dichtgemacht«, fluchte Chris. »Wie zum Teufel sollen wir nun da reinkommen?« Er trat gegen das Gitter. Augenblicklich verstummte das Jaulen.
»Klingeln wir doch einfach«, erwiderte Benjamin und drückte auf das Schalterfeld über der Sprechanlage.
Doch lediglich ein Rauschen antwortete ihnen.
»Keiner zu Hause«, spottete Benjamin.
»He, hört uns denn keiner?« Chris ließ die Finger auf der Klingel liegen. Sie warteten, doch es tat sich nichts. Kein Licht ging an. Totenstille antwortete ihnen.
Chris verpasste dem Gitter erneut ein paar heftige Stöße.
»Da muss jemand sein«, sagte Rose. »Irgendjemand von den Sicherheitsleuten. Die müssten uns doch hören.«
»Oder sehen«, erwiderte Benjamin und zog, von einer Windböe getroffen, seine Mütze tiefer ins Gesicht. »Der Eingang wird doch überwacht.«
Der Wind heulte und irgendwo stürzte etwas laut krachend zu Boden.
Debbie wimmerte.
Chris betrachtete sie besorgt. Das Mädchen, das vor ihnen stand, die Haare voller Schnee, die blutverkrustete Schramme an der Schläfe, das Gesicht blau gefroren vor Eiseskälte, das war nicht Debbie, sondern sie schien auf unheimliche Weise wie verwandelt. Was, wenn ihre Verletzung schlimmer war, als es aussah?
Seine Schuld.
Wie schnell man schuldig wurde. Ohne Absicht. Ohne Vorwarnung. Einfach so. Eine schneebedeckte Straße, Reifen, die – er hatte keine Ahnung, was genau passiert war – einfach keinen Halt fanden, wegrutschten. Bremsen, die nicht griffen. Eine steile Kurve.
Aber – es war ja nichts passiert, oder? Sie waren alle noch am Leben, weil er den Wagen eben doch im
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