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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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erzählt. Stattdessen hatte Prof. Dr. Jonathan Green sich neben sie gesetzt und seine schweißnasse Hand auf ihr Knie gelegt: »Wollen wir uns doch einmal ein Bild von deinem Gehirn machen. Vielleicht finden wir dann heraus, warum du all diese Sachen tust.«
    Sachen.
    Warum sprach er es nicht aus?
    Denn da war ja nicht nur die Sache mit Alice und den Glaskugeln gewesen, sondern – okay, das war harmlos gewesen – auch die abgeschnittenen BH-Träger ihrer Mum. Die Strassohrringe in der Jackentasche ihres Stiefvaters waren da schon raffinierter. Eine echte Glanzleistung. Oh, ihre Mum war ausgerastet!
    Debbie wusste nicht wirklich, was dieser Psychiater in ihrem Gehirn gesehen hatte – vermutlich so komplexe Verbindungen, dass es ihn einfach überforderte –, aber seine Diagnose war in jedem Fall falsch. Schließlich hatte sie einen ziemlich hohen IQ, oder? Und dennoch hatte er die Frechheit besessen, sie als psychisch auffällig und labil zu beschreiben.
    Und er hatte auch mit ihr über ihre Grandma gesprochen, bei der sie die ersten vier Jahre ihres Lebens aufgewachsen war.
    Debbie starrte durch die Glasfassade ins Innere des Grace. Ihr war so kalt und ihr Kopf war vergleichbar mit diesem Blechding, das zu einem Schlagzeug gehörte – warum fiel ihr nur der Name nicht ein?
    Ein Geräusch, als ob ständig ihre beiden Gehirnhälften aneinanderprallten. Das kam nur von diesem Schlag auf den Kopf, als Chris gegen den Baum gefahren war.
    Grandma Martha, die Mum ihrer Mum, hatte ihr eingetrichtert, dass alles, alles, was ihr zustieß, zu der großen Strafaktion gehörte, die Gott startete. Also war sie schuld? Nein, Grandma, Chris war schuld, dass sie den Erfrierungstod sterben würde.
    Debbie hob den Kopf und starrte in den Himmel. Auch wenn sie nicht daran glaubte, musste sie doch zugeben, dass in keinem anderen Buch menschliches Leid so perfekt geschildert wurde wie in der Bibel, genauer gesagt in der Apokalypse. Und dieser Himmel sah ziemlich apokalyptisch aus. Perfekt apokalyptisch. Ein Grau wie nach einem Ascheregen und – wie hieß es – der Himmel öffnete seine Schleusen und ließ Asche regnen.
    Nein, dieser Gott war nicht gerecht. Er war einfach nur ein mieser, unfähiger Richter. Denn wenn Gott wirklich einen Schuldigen suchte, warum bestrafte er dann nicht diesen ach so coolen und scheißarroganten Christopher Bishop mit seiner heiligen Julia.
    Ich weiß, was dein Vater getan hat!
    Ha! Heilig?
    Von wegen!
    Kam eigentlich Schnee in der Bibel vor? Sie hatte keine Ahnung. Vermutlich nicht, denn das göttliche Drehbuch spielte schließlich in Israel. Aber vielleicht war das jetzt keine Strafe, sondern eine Belohnung. Eine Strafe wäre es gewesen, das Wochenende bei ihrer Grandma verbringen zu müssen.
    Und Grandma Martha hätte das Buch in ihrem Koffer, Debbies Lieblingsbuch Cupido, einfach in den Müll geworfen.
    Böse Gedanken lesen, heißt, Böses zu denken.
    Noch einer von Grandmas Lieblingssätzen.
    Und Böses denken, heißt, Böses zu tun.
    Und Böses zu tun, heißt, Gottes apokalyptischen Zorn auf sich zu lenken.
    Die Wunde an Debbies Kopf pochte. Sie stand auf und legte ihr Gesicht an die eiskalte Glasscheibe. Wie gut das tat!
    »Lass mich hinein!«, flüsterte sie dem Gebäude zu, das ihr den Weg in sein Innerstes versperrte. »Lass mich hinein.«
    Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen wie ein Kind, das hofft, wenn es sie wieder öffnet, würde sich etwas verändert haben.
    Und tatsächlich!
    Das Licht in der Eingangshalle war angegangen und warf ein grelles Licht auf die Szene vor ihr. Sie nahm sie in allen Einzelheiten wahr. Auch das, was sie nicht sehen wollte, weil sie es nicht begreifen konnte.
    Wieder schloss sie die Augen.
    Riss sie erneut auf und blickte in ein vertrautes Gesicht, das sich hinter der Scheibe abzeichnete.
    Ein Mund, der sich öffnete, der etwas sagte.
    Und auch wenn sie die Worte nicht verstehen konnte, wusste Debbie doch, was er meinte:
    »Schweig wie ein Grab!«

9. Kapitel
    K ein Gebäude der Welt ist sicher vor Eindringlingen«, schimpfte Chris. »Irgendwie müssen wir doch in dieses Scheißcollege kommen. Hier draußen können wir jedenfalls nicht bleiben. Und wenn...«
    »Oh mein Gott, Debbie!«, unterbrach Julia ihn. Im nächsten Moment rannte sie los.
    Alles, was Chris von Weitem erkannte, war ein heller Fleck auf dem Boden.
    Debbie stand nicht mehr dort, wo sie sie verlassen hatten, sondern befand sich etwa drei bis vier Meter von dem Eingang entfernt. Sie

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