Der Sturm
warm. Er legte den Arm um Julias Schultern und sie legte den Kopf auf seine Schultern.
Dann knisterte es und helles Licht fiel auf die Leinwand. Zunächst hörten sie nur Stimmengewirr, dann erschien die erste Einstellung ganz unvermittelt auf der Leinwand, als ob die DVD mitten im Film anfing.
Hohe Mauern.
Eine weite Rasenfläche.
Der Film war in Schwarz-Weiß und immer wieder traten Bildstörungen auf. Es musste ein uralter Schinken sein.
»Mach den Scheiß aus, Ben«, rief er über die Schulter. »Wir wollen was Vernünftiges sehen!«
Aber der Film lief weiter und nun erkannte Chris eine Gruppe von Jugendlichen mit Rucksäcken auf den Schultern, die fröhlich winkten.
»Was ist das denn für ein Film?«, hörte er Julia irritiert fragen.
»Nach einem Porno sieht das jedenfalls nicht aus«, gab Chris zurück. Verblüfft starrte er auf die Leinwand vor sich. Etwas daran kam ihm verdammt bekannt vor. Die Erinnerung an das Wochenende vor drei Monaten stieg in ihm hoch.
»He«, erklang eine Stimme. »Jetzt stellt euch doch einmal richtig zusammen! Nein, Paul, du musst nach hinten, du verdeckst sonst unsere Schönheiten!«
Gelächter. Ein Junge mit langen Haaren bewegte sich, ging um die Gruppe herum, stellte sich hinter ein Mädchen mit blonden Haaren und hob den Daumen in die Kamera.
Wieder die Stimme aus dem Hintergrund: »Ja, gut so! Und jetzt lächeln! Wir wissen ja nicht, ob ihr das noch könnt, wenn ihr wieder zurückkommt!«
Schnitt.
Eine andere Einstellung.
Ein Gebäude im Hintergrund.
Auf den ersten Blick schien es sich um ein Hotel zu handeln, von dessen Mittelteil aus sich zwei Seitenflügel erstreckten. Aber der Eindruck täuschte. Das war kein Hotel, das war...
Die beiden Seitenflügel ähnelten auf jedem Fall dem Grace mit den unzähligen Balkonen, Dachgaupen und Sprossen-fenstern. Nur der Mittelteil sah völlig anders aus. Die Glasfront fehlte, stattdessen war das Herzstück des Gebäudes aus dem dunkelgrauen Naturstein errichtet, der hier oben im Tal vorherrschend war. Ein riesiges steinernes Eingangsportal erhob sich über einem halbrunden Vorplatz, in dessen Mitte ein imposanter Ahornbaum stand.
Das ist das Grace, schoss es Chris durch den Kopf, wie es früher ausgesehen haben muss.
Nun schwenkte die Kamera weiter.
Der hintere Teil des Campus hatte offenbar noch nicht existiert, dafür säumten zwei Häuserreihen die Straße nach Fields, die an alte Militärbaracken erinnerten. Und dort, wo sich heute der Parkplatz befand, stand ein einzelner junger Mann und ein Mädchen hielt ihm das Mikrofon vor den Mund.
»Okay, Mark«, war wieder die Stimme aus dem Off zu hören. Es musste derjenige sein, der die Kamera hielt. »Jetzt erkläre doch einmal genau, was ihr vorhabt.«
Der Junge, der mit Mark angesprochen worden war, lächelte, wandte sich zur Seite und deutete auf den Berg hinter sich, bei dem es sich unverkennbar um den Ghost handelte. »Das Ganze ist eine Expedition. Eine Art Suche...«
»Und wonach sucht ihr dort oben?«
»Das ist schwierig zu erklären, aber ich würde sagen... nach uns selbst.«
Er lachte und legte den Arm um das Mädchen.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören, so ruhig war es im Saal. Chris wäre es wirklich lieber gewesen, seine Freunde hätten anders reagiert. Denn es wäre doch das Normalste von der Welt, wenn einer von ihnen jetzt rufen würde: »He, das ist ja ein Film über das Tal!«
Oder...
»Mann, sind das etwa Aufnahmen von den acht Studenten, die verschollen sind?«
Stattdessen schrie Julia neben Chris auf. »Wusstest du das, Benjamin?« In ihrer Stimme lag blanke Panik.
»Was?«, erwiderte Benjamin anstelle einer Antwort.
»Gib es zu! Du kennst den Film.«
»He, ich habe keinen blassen Schimmer.« In Bens Stimme schwang neben Neugierde etwas mit, das Chris nur selten bei seinem Freund entdeckte. Er klang irritiert. Damit löste sich sein Verdacht, Benjamin hätte diesen Film irgendwo ausgegraben, in nichts auf.
Nun glitt die Kamera über den spiegelglatten See, die dunklen Bäume und den Ghost. Und obwohl die Filmaufnahme alt sein musste, erschrak Chris, wie sehr doch die Umgebung der heutigen glich.
Wieder der Schwenk auf die Gruppe, die sich nun abwandte und losging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Nun wechselte das Bild.
Eine Lichtung in einem Wald. Es war stockdunkel, bis auf den weißen Strahl einer Taschenlampe. Regennadeln fielen vom Himmel und dann ertönte leises Lachen im Hintergrund. Zwei Gestalten erschienen im Bild
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