Der Sturm
Kino.«
»Was machen wir mit Debbie?«, fragte Julia.
»Ich sorge dafür, dass sie eine Schlaftablette nimmt und sich hinlegt. Ich glaube, in ihrem Kopf ist Chaos genug, da braucht sie nicht noch irgendwelche Horrorfilme«, erwiderte Rose und klopfte erneut an die Badezimmertür.
»Debbie? Wir gehen hinunter ins Kino und sehen uns ein paar Filme an.«
Gemurmel antwortete ihr.
»Lauter, Debbie, ich verstehe dich nicht.«
Wasser wurde aufgedreht und wieder abgedreht.
»Debbie?«
»Macht, was ihr wollt, ich muss...«
Den Rest konnten sie nicht verstehen. Plötzlich bebten die Wände und der Boden vibrierte. Ein ohrenbetäubender Krach erschütterte das Gebäude. Auf den ersten Knall folgten weitere Schläge, die schlimmer waren als alles, was der Sturm bisher geboten hatte.
Es hörte sich an, als raste ein Güterzug direkt vor ihrem Fenster vorbei.
Rose rannte zum Fenster und schaute hinaus. Als sie sich umwandte, war ihr Gesicht schneeweiß.
»Da unten am Ufer des Sees...«Sie stockte.
»Was?«, fragte Julia.
»Da steht kein einziger Baum mehr.«
12. Kapitel
Liste No. 34 – Lieblingssätze meines Stiefvaters:
Kein Make-up am Esstisch!
Wasch dir die Hände!
Kratze dich nicht ständig!
Debbie hörte, wie die anderen das Apartment verließen und Ruhe einkehrte. Sie war froh, dass sie nun alle hierblieben. Besser, als bei Grandma Martha in Vancouver herumzusitzen. Wenn sie nur nicht so müde gewesen wäre. Und ihr war immer noch kalt. Debbie griff nach dem Wasserhahn, drehte ihn auf und ließ heißes Wasser über ihre Finger laufen.
Immer hatte sie kalte Hände.
Das war Vererbung.
Debbie glaubte fest an Gene. Und wenn diese Sache mit der DNS stimmte, woran sie keinen Zweifel hatte, mochte Grandma sagen, was sie wollte, konnte sie zumindest einige Dinge für ihre Zukunft vorhersehen. Sie würde früh Kinder bekommen wie Grandma und Mum. Und ihre Haare würden später grau werden als bei anderen. Dafür müsste sie bei ihrer... wie sagte Grandma immer . . . vornehmen Blässe aufpassen, dass sie sich keinen Hautkrebs einfing wie ihr Onkel Joseph, der mit neununddreißig Jahren daran gestorben war.
Debbie drehte den Wasserhahn zu und starrte zum x-ten Mal in den Spiegel. Sie hatte das Gefühl, dass die Schwellung an der Stirn schlimmer geworden war. Sie würde Chris verklagen. Er war zu schnell gefahren. Sie hätte tot sein können. Er konnte also froh sein, wenn er ihr nur Schmerzensgeld zahlen musste. Und das würde Chris wirklich Probleme bereiten, denn Chris war ARM!
Und Chris war schuld, dass sie jetzt dieses schmerzhafte Hämmern in ihrem Kopf ertragen musste. Was, wenn die Verletzung schlimmer war, als alle dachten? Wenn sie etwas Schlimmeres hatte als nur eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung? Vielleicht hatte sich sogar ein Aneurysma als Folge des Unfalls gebildet. Debbie hatte diesen Begriff in der hundertfünften Folge der VI. Staffel von Grey’s Anatomy zum ersten Mal gehört und sofort in den Lehrbüchern ihres Stiefvaters nachgeschlagen.
Aneurysmen konnten schnell größer werden, wie die Schwellung an ihrer Stirn.
Debbie versuchte, sich vorzustellen, wie das Aneurysma sich in ihrem Kopf ausbreitete und schließlich – peng! – platzte es.
Oh Gott, ihre Kopfschmerzen waren jetzt unerträglich.
Bestimmt. Sie hatte bestimmt ein Aneurysma.
Sie spürte, wie sie am ganzen Körper zitterte.
Sie sollte das tun, was Rose gesagt hatte. Eine Tablette nehmen und schlafen. Aber – stellte Debbie sich vor – wenn sie sich hinlegte, dann würde sie mit Sicherheit die ganze Zeit nur darauf achten, wie sich dieses heimtückische Blutgerinnsel wie ein Wurm durch ihr Gehirn bohrte.
Nicht daran denken, Debbie.
Denk an etwas anderes.
Woran? Etwa daran, was sie in der Eingangshalle gesehen hatte?
An das Gesicht im Fenster?
Die lautlos gesprochenen Worte?
Nein! Nicht daran denken!
Gerade daran nicht!
Denn das hätte bedeutet, dass sie hätte handeln müssen. Und Debbie fühlte sich nicht in der Lage zu handeln.
Die Liste!
Die Liste war noch nicht vollständig.
Was sagt dein Stiefvater noch immer?
Immer in Maßen!
Sei nicht so hysterisch!
Reiß dich endlich einmal zusammen!
In das riesige Badetuch gehüllt, das Katie gehörte, öffnete Debbie den Koffer und suchte nach dem Beutel mit ihren Medikamenten. Sie schrak zusammen, als ihr Handy laut aufjaulte. Und diesmal fand sie es nicht lustig, dass sie das Martinshorn als Klingelton gewählt hatte. Nein, sie wollte, dass dieses Gejaule
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