Der Sturm
seine Schultern und verfolgte gebannt, wie der Wind durch das Zimmer fuhr, die Blätter vom Schreibtisch wehte, sie in der Luft umherwirbelte und dann die Bücher aus den Regalen fegte. Genau an der Stelle, an dem die Reihe mit dem Buchstaben B begann.
Zugleich strömte Eiseskälte von außen nach innen und schon nach wenigen Sekunden war der Holzfußboden im Flur mit Schnee bedeckt. Die Luft wurde grauweiß und Chris hatte Mühe zu atmen. Im Collegegebäude vor ihm gingen mit einem Schlag die Lichter aus. Stromausfall. Und dann die Außenbeleuchtung. Und auch der Flur hinter ihm versank in ein Dunkel, von dem sich der Schnee abzeichnete, der immer noch ins Haus eindrang.
Ein gewaltiger Krach ließ ihn zusammenzucken. Hinter ihm schlug die Tür zu und er sah erneut eine weiße Schneewolke auf sich zukommen, als handele es sich um eine Art UFO.
Und Chris rannte mittendurch. Er legte die Strecke in Rekordzeit zurück – zumindest für die Wetterverhältnisse. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und er fühlte das Blut pulsieren, aber er achtete nicht darauf.
Da drüben – das Tor.
Chris warf sich dagegen, einmal, zweimal, doch der Schnee hatte sich zu hoch aufgetürmt, als dass es sich einfach öffnen ließ.
Zentimeter um Zentimeter schob er es auf, und während er kämpfte, überschlugen sich seine Gedanken.
Professor Brandon war zurückgekommen. Er war in seinem Haus gewesen. Daran gab es keinen Zweifel.
Aber warum?
Und was hatten die Filme in seinem Arbeitszimmer zu suchen? Hatte er sich die Aufnahmen im Kino angeschaut und dann die DVD im Gerät liegen lassen? Oder hatte er gewollt, dass sie die Bilder sahen? Letzeres erschien Chris wahrscheinlicher.
Chris konnte im Schneegestöber kaum etwas erkennen, genauso wenig wie er den Zusammenhang erkannte, die Logik dahinter. Das Einzige, was ihm wirklich real schien, was er begriff, war Julias Furcht. Er spürte ihre Panik fast körperlich und konnte ihr Gesicht nicht vergessen, als sie vergeblich versucht hatte, die Tür zu öffnen, um dem Kinosaal zu entfliehen.
Er wusste jetzt, er hätte sie nicht alleine im Apartment zurücklassen dürfen, hätte bei ihr bleiben müssen. Umso mehr, als er mit eigenen Augen gesehen hatte, was mit Ted Baker geschehen war.
Endlich gelang es ihm, das Tor so weit zu öffnen, dass er sich hindurchschieben konnte. Er rannte auf die Seitentür zu und sein einziges Ziel war, in das Gebäude vor ihm zu gelangen. Den Ort aufzusuchen, der ihm am Morgen als Schutz gegen den Sturm erschienen war und der nun ein Gefühl von Bedrohung hervorrief, wie er es noch nie empfunden hatte.
Er schauderte, als das Tor zum Hinterhof mit lautem Krachen hinter ihm zuschlug, und ihm schien, als stünde hinter diesem Sturm nicht nur eine immense Kraft, sondern auch ein unbändiger Wille, als wolle er mit aller Gewalt in das Gebäude eindringen.
Chris hörte im Lärmen des Sturms nicht das Geräusch. Aber er spürte, wie sein Handy an der Hüfte vibrierte. Ein Anruf. Er zog im Laufen das Telefon aus der Tasche. Im Display leuchtete Davids Nummer auf.
David?
Warum rief er an?
Nicht jetzt, dachte Chris und stürzte auf die Seitentür zu. Als er sie öffnen wollte, konnte er noch nicht einmal die Klinke runterdrücken. Erst dachte er, die Anspannung, die Angst der letzten Stunden hätten ihm dafür die Kraft geraubt. Dann begriff er, dass sie lediglich einen Knauf hatte und er sie erneut aufschließen musste.
Das Handy vibrierte in seiner linken Hand und gab keine Ruhe.
Er hatte nicht die Absicht, Davids Anruf entgegenzunehmen, aber dann drang aus den tiefsten Winkeln seines Bewusstseins ein Gedanke an die Oberfläche. Die Erinnerung an die Nachricht, die er vor Stunden gehört hatte. Ein Wagen, der sich überschlagen hatte. Die Suche nach Überlebenden. Julia hatte befürchtet, es könnte sich um Davids Wagen handeln. Und er hatte widersprochen.
Er drückte auf die grüne Taste.
»David!«, schrie er gegen den Wind an. »Was ist los!«
»Chris!«
Es war nicht Davids Stimme.
»Chris? Ist mit Julia alles in Ordnung?«
Robert!
»Ich kann jetzt nicht mit dir reden, Robert!«
»Ist alles in Ordnung mit meiner Schwester?«
Was sollte Chris antworten, außer: »Ich kann jetzt nicht reden, ich bin auf dem Weg zu ihr.«
Er konnte gerade noch hören, wie Julias Bruder rief: »Ich mache mir Sorgen . . .«, als er das Gespräch beendete und den Schlüssel ins Schloss steckte.
Er brauchte keine Anrufe, um zu wissen, was er zu tun hatte. Robert war
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