Der Sturm
ihr nachts die Träume, aus denen sie schweißgebadet erwachte. Und er war schuld daran, dass sie Angst hatte, den Dreck von ihrem Körper nicht loszuwerden. Er war es, der sie alles in sich hineinstopfen ließ, was sie zwischen die Finger bekam.
Sie setzte sich auf, drehte sich zur Seite, öffnete die Schublade ihres Nachttisches und wollte nach dem Schmerzmittel greifen, das Superdad ihr verschrieben hatte. Aber die Schublade war leer bis auf den letzten Brief, den Alice ihr geschrieben hatte.
Wieder sank ihr Kopf auf das Kissen. Debbie fasste sich an die Stirn und fuhr sich durch die Haare, fast als könne sie so in den Schubladen ihrer Erinnerungen wühlen und – tatsächlich – von ganz tief unten stieg ein Begriff in ihr Bewusstsein.
Ein Unfall.
Sie hatten einen Unfall gehabt. Chris war gegen einen Baum gefahren, ihr Kopf war gegen die Scheibe geprallt, sie hatte kilometerweit laufen müssen und wäre fast erfroren.
Das waren klare Fakten.
Aber dann?
Was war danach passiert?
Debbie wusste es nicht. Die Spur der Erinnerungen endete einfach so. Alles Weitere, was dazu geführt hatte, dass sie nun hier in ihrem Bett lag, war... Schwärze.
Und der Sturm, der heulte.
Mühsam kroch Debbie aus dem Bett.
Sie taumelte zum Spiegel, der an der Tür hing. Mit der Fußspitze stieß sie einen BH zur Seite. Doch dann erschrak sie vor sich selbst. Ihr bleiches Gesicht starrte ihr entgegen. Ihre Haare klatschten schweißnass an ihrem Kopf und ihre Lippen waren so blass, dass sie sich kaum von der Gesichtshaut abhoben. Und was war mit ihren Augen? Das Weiße und die blaue Iris waren verschwunden. Ja, wirklich, sie hatte blaue Augen, auch wenn alle die Farbe als verwaschenes Grau bezeichneten. Sie blinzelte und für einen Moment wehrte sie sich gegen den Schwindelanfall, der sie überfiel.
Sie wollte gerade wieder hinüber zum Bett gehen, als sie von draußen ein Geräusch hörte. Sie lauschte. Wenn sie nicht alles täuschte, dann weinte jemand, ja schluchzte geradezu.
Langsam und leise öffnete sie die Tür einen Spalt.
Im Vorraum war niemand zu sehen, also musste es aus einem der Zimmer kommen. Debbie ging auf den Zehenspitzen ein Stück nach vorne und konnte Julia erkennen, die auf ihrem Bett saß. Vor ihr lag in eine Decke gehüllt Ike.
Wie kam der Hund hierher?
Und – Julia hielt einen Zettel in der Hand.
Irgendetwas klingelte bei Debbie, eine vage Erinnerung. Papier. Das Summen eines Druckers. Ja, sie hatte etwas ausgedruckt. Eine Mail, oder?
Wenn sie sich nur daran erinnern könnte, was in der Mail gestanden hatte!
Für einen Moment stand sie einfach nur da und starrte zu Julia hinüber. Das dumpfe Hämmern in ihrem Kopf wurde stärker und stärker und Debbie brauchte einen langen Augenblick, um zu begreifen, dass das Geräusch Wirklichkeit war.
Jemand hämmerte an die Tür.
Julia setzte sich in Bewegung und Debbie wich zurück in ihr Zimmer.
»Chris?«, hörte sie Julia im Vorraum fragen. »Chris, bist du das?«
»Lassen Sie mich herein!« Eine tiefe Stimme, die Debbie instinktiv zusammenzucken ließ. Aber warum? Warum hatte sie plötzlich solche Angst?
»Was wollen Sie?«
»Es geht um deinen Vater!«
Julia stieß ein Stöhnen aus. Einen Moment konnte man nur den Sturm hören, der gegen die Fenster schlug. Und dann vernahm Debbie das Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss umgedreht wurde.
Und plötzlich fiel ihr alles wieder ein.
23. Kapitel
D raußen im Freien sah Chris sich einer grauweißen Wand gegenüber und der Schnee schlug ihm mit einer Wucht entgegen, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er trug keine Jacke, hatte sie in der Hektik vergessen.
Chris hatte schon viele Winter in den Rockies erlebt, sie waren nichts für Weicheier, aber das hier schlug alle Rekorde. Das Licht der Taschenlampe reichte gerade aus, um den nächsten Schritt zu machen. Hier oben tobte mit Sicherheit einer der schlimmsten Stürme der letzten fünfzig Jahre, andererseits – das Tal fiel sowieso aus jeder menschlichen Statistik.
Er wunderte sich nur, wie gut das Hauptgebäude und die Bungalows bisher dem Sturm standgehalten hatten.
Das Tor, das auf die schmale Straße führte, war noch immer geschlossen. Mit dem Seiteneingang hatte Chris dank Teds Schlüsselbund keine Probleme gehabt, aber diesmal war die Sache schwieriger. Das Schloss des Tors war eingefroren.
Er rieb den Schlüssel zwischen den Fingern, hauchte in das Schloss und wusste gleichzeitig, dass diese Aktionen sinnlos waren. Er
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