Der Sturm
betrachtete die Schlüssel in seiner Hand und wusste sofort, um welchen es sich handelte.
Er stieß die Tür auf und rief erst leise und dann lauter: »Mr Brandon?«
Keine Antwort.
»Professor Brandon, sind Sie hier? Sind Sie zu Hause?«
Stille lag über dem Bungalow. Sein Blick fiel auf die Garderobe, wo Brandons Mantel hing. Ein langer dunkelgrauer Mantel, und wenn Chris nicht alles täuschte, dann hatte der Professor genau diesen am Morgen getragen.
Hau ab! Zieh endlich Leine und geh zurück zu Julia!
Er tat es nicht. Stattdessen ging er einige Schritte weiter und stieß die Tür auf, die ihm genau gegenüberlag.
Und plötzlich war er in einer anderen Welt.
Eine Oase in dem Sturm und der Kälte, die am Hauseingang zurückgeblieben war.
Bücherregale bis an die Decke, gefüllt mit Tausenden und Abertausenden von Büchern. Schwere Teppiche, dunkle Ledersessel. In dem offenen Kamin links an der Wand prasselte ein gemütliches Feuer. Jemand hatte erst vor Kurzem Holz nachgelegt.
Eine halb gefüllte Flasche und ein leeres Glas standen auf dem Schreibtisch. Und ein Geruch lag in der Luft, auf den Chris so allergisch reagierte wie andere auf Graspollen. Der Geruch von Bourbon.
Genauso hatte es im Arbeitszimmer seines Vaters gerochen.
Chris sah sich weiter im Raum um. Links vom Kamin stand eine hohe Standuhr aus dunklem Holz. Eine teure Anlage mit einem dieser Retro-Plattenspieler stand in einer Ecke. Kopfhörer lagen auf dem Boden. Brandon war offensichtlich ein Musikfreak. Zumindest reihten sich in den Regalen an der Rückwand die Vinyl-Platten dicht an dicht. Und in der Mitte des Raums ein großer antiker Schreibtisch, auf dem sich Papiere stapelten. Das leere Glas daneben.
Nichts schien an diesem Raum zufällig. Jeder einzelne Gegenstand von den dunklen Ledersesseln bis zur Standuhr, vom Schreibtisch bis zu den Regalen wirkte wie ein Klischee.
Das Klischee vom guten alten Professor.
Fehlte nur noch die Pfeife mit dem Tabak.
Chris trat ans Bücherregal. Es war alphabetisch geordnet. Der Professor war, was die Sortierung seiner Bibliothek betraf, offensichtlich ein Pedant. Er fand die Bücher seines Vaters sofort unter B.
John Bishop.
Er zog sie nacheinander heraus.
Allein die Titel verrieten bereits, dass sein Vater auf seinem Gebiet etwas Besonderes gewesen war.
Futurum I,
Futurum II,
Exitus.
Exitus...
Er hörte wieder Benjamins Lachen im Wagen, kurz bevor sie ins Schleudern geraten waren...die Bremsen... etwas war mit den Bremsen gewesen. Und dann sah er das Schild vor sich EXIT und in riesigen schwarzen Lettern dazugepinselt US. EXITUS.
Vorhin hatte er das übergangen. Aber jetzt?
Er dachte an den Film zurück. Jemand hatte gewollt, dass sie den Film sahen, oder? Die Sache war geplant gewesen, so viel war sicher.
Chris schlug das Buch auf und blätterte bis zu der Seite mit dem Zitat, mit dem alles angefangen und geendet hatte.
Als Zarathustra dreißig Jahr alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge.
Nietzsche, der Lieblingsphilosoph seines Vaters.
Er wollte das Buch ins Regal zurückschieben, als er auf der linken Seite etwas entdeckte. Neben den Büchern seines Vaters stand ein schwarzer viereckiger Kasten, alt und verstaubt, der Deckel halb geöffnet. Er enthielt große Rollen, die offensichtlich in großer Eile in den Kasten gelegt worden waren.
Chris starrte auf den Aufdruck des Kastens. Kodak, las er. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, worum es sich handelte.
Was hatte Ben gesagt?
Ein Amateurfilm. Mit einer Super-8-Kamera gedreht, später digitalisiert.
Chris nahm wahllos eine der Rollen zur Hand. Er zog an dem Filmstreifen und hielt ihn ins trübe Licht. Er brauchte nicht lange zu suchen, dann entdeckte er, was er vermutet hatte. Die jungen, fröhlichen Gesichter hatten sich ihm seit dem Kino heute Nachmittag tief ins Gedächtnis eingebrannt.
Chris drehte sich auf dem Absatz um.
Professor Brandon war nicht hier. Aber er besaß Filme, die die acht Studenten zeigten. Und Chris konnte nicht glauben, dass das ein Zufall war.
Chris hatte kaum die Kraft, die Tür aufzustoßen, so stark war die Kraft des Sturms. Der Wind hatte offenbar gedreht. Er fegte nun von Nordwesten kommend durch den schmalen Durchgang, der die Bungalows trennte, und entwickelte einen fast unheimlichen Sog.
Mit aller Kraft hielt er die Tür auf und bemerkte zu spät, dass er vergessen hatte, die Tür zum Arbeitszimmer zu schließen. Er wandte den Kopf über
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