Der Sturz - Erzählungen
anzugreifen, sondern, überhaupt anzugreifen, den Nächstbesten anzugreifen.
Seine wütenden Angriffe richteten sich nämlich unverständli-cherweise nicht gegen F, G oder K, sondern gegen C, dem er doch das meiste verdankte, wie hätte A ohne den Chef des Geheimdienstes regieren können. Dennoch warf er ihm nun auf einmal vor, C hätte ohne Wissen A’s O verhaftet, und befahl ihm, den Atomminister zu rehabilitieren, wenn das noch möglich sei. Wahrscheinlich sei er nach den Methoden C’s ohnehin längst erschossen. A ging noch weiter. Er forderte den Chef der Geheimpolizei auf, zurückzutreten. Eine Untersuchung gegen ihn, seiner abwegigen Veranlagung wegen, sei 42
schon längst fällig. »Ich verhafte dich auf der Stelle«, tobte A und schrie durch die Sprechanlage nach dem Oberst. Totenstil-le. C blieb ruhig. Alles wartete. Minuten verstrichen. Der Oberst erschien nicht. »Warum kommt der Oberst nicht?«
herrschte A C an. »Weil wir ihn angewiesen haben, unter keinen Umständen wieder zu erscheinen«, antwortete der Chef der Geheimpolizei ruhig und riß das Kabel der Sprechanlage aus der Wand. »Verdammt«, entgegnete A ebenso ruhig. »Du hast dich selbst schachmatt gesetzt, A«, meinte der Außenminister B, indem er die Ärmel der gut zugeschnittenen Jacke hinunterzog, »die Anordnung, den Oberst nicht mehr kommen zu lassen, stammt von dir.« – »Verdammt«, murmelte A noch einmal, dann klopfte er seine Pfeife wieder einmal aus, obgleich sie noch brannte, holte eine neue aus der Tasche, eine gebogene Dunhill, stopfte sie und setzte sie in Brand. »Verzeih, C«, sagte er. »Bitte, bitte«, lächelte die Staatstante, und N
wußte, daß A verloren war. Es war, als ob ein Tiger, gewohnt, im Dschungel zu kämpfen, sich plötzlich in der Steppe von einer wütenden Büffelherde umringt sah. A hatte keine Waffen mehr. Er war hilflos. Zum ersten Male war er für N kein Geheimnis, kein Genie und kein Übermensch mehr, sondern ein Machthaber, der nichts als das Produkt seiner politischen Umgebung war. Dieses Machtprodukt verbarg sich hinter dem Bilde des väterlichen und bäuerischen Kolosses, das in jedem Schaufenster ausgestellt war, in jeder Amtsstube hing und in jeder Wochen- und Tagesschau auftauchte, Paraden abnahm, Waisenhäuser und Altersheime besichtigte, Fabriken und Staudämme einweihte, Staatsmänner umarmte und Orden austeilte. Er war für das Volk ein patriotisches Symbol, ein Sinnbild für die Unabhängigkeit und die Größe des Vaterlandes. Er repräsentierte die Allmacht der Partei, er war der weise und gestrenge Landesvater, dessen Schriften (die er nie geschrieben hatte) von allen gelesen und auswendig gelernt wurden, auf den jede Rede, die gehalten, und jeder Artikel, der 43
verfaßt wurde, Bezug nahm; aber in Wirklichkeit war er unbekannt. Man legte alle Tugenden in A hinein und machte ihn dadurch unpersönlich. Indem man ihn in ein Idol verwandelte, verschaffte man ihm einen Freipaß, der ihm alles erlaubte, und er erlaubte sich alles. Doch die Verhältnisse hatten sich geändert. Die Männer, die den Umsturz herbeigeführt hatten, waren Individualisten gewesen, gerade weil sie den Individualismus bekämpften. Die Empörung, die sie trieb, und die Hoffnung, die sie begeisterte, waren echt und setzten revolutionäre Individuali-täten voraus; Revolutionäre sind keine Funktionäre, sie versu-chen, solche zu sein, und scheitern daran. Sie waren entlaufene Priester, versoffene Wirtschaftstheoretiker, fanatische Vegeta-rier, relegierte Studenten, untergetauchte Rechtsanwälte, entlas-sene Journalisten, sie lebten in Schlupfwinkeln, wurden verfolgt und in Gefängnisse geworfen, führten Streiks, Sabotagen und Morde durch, verfaßten Flugschriften und geheime Broschüren, schlossen taktische Bündnisse mit ihren Gegnern und brachen sie wieder, doch, kaum hatten sie gesiegt, schuf die Revolution mit der neuen Gesellschaftsordnung auch den neuen Staat, dessen Macht ungleich gewaltiger war, als jene der alten Ordnung und des alten Staates. Ihr Aufstand wurde von der neuen Bürokratie verschluckt, die Revolution mündete in ein organisatorisches Problem ein, woran die Revolutionäre scheitern mußten, weil sie Revolutionäre waren. Den Männern, die jetzt gebraucht wurden, standen sie hilflos gegenüber. Den Techno-kraten waren sie nicht gewachsen: Ihr Versagen war jedoch auch die Chance A’s. In dem Maße, wie der Staat von der Verwaltung überwuchert wurde, mußte die Revolution als Fiktion
Weitere Kostenlose Bücher