Der Sturz - Erzählungen
gegenüber, der darin liege, daß sich zwar die Revolution dem Staate, in Wirklichkeit jedoch auch der Partei gegenüber in einem Wider-streit befände. Die Revolution und die Partei seien nicht dasselbe, wie manche glaubten. Die Revolution sei ein dynami-scher Vorgang, die Partei ein mehr statisches Gebilde. Die Revolution ändere die Gesellschaft, die Partei installiere die veränderte Gesellschaft im Staat. Die Partei sei deshalb Träger der Revolution und zugleich Träger der Staatsmacht. Dieser innere Widerspruch verführe die Partei, sich mehr dem Staate als der Revolution zuzuneigen, und nötige die Revolution, die Partei immer wieder zu revolutionieren; die Revolution entfa-che sich geradezu an der menschlichen Unzulänglichkeit, die der Partei als einem statischen Gebilde innewohne. So komme es, daß die Revolution vor allem jene verschlingen müsse, die im Namen der Partei Feinde der Revolution geworden seien.
Die Männer, die der Minister für die Schwerindustrie aufgezählt habe, seien ursprünglich echte Revolutionäre gewesen, sicher, keiner zweifle daran, doch durch ihren Irrtum, die Revolution für abgeschlossen zu halten, seien sie zu Feinden der Revolution geworden und hätten als solche vernichtet 40
werden müssen. Das sei auch heute der Fall: indem das Politische Sekretariat alle Macht an sich gerissen habe, sei die Partei bedeutungslos geworden und könne nicht mehr der Träger der Revolution sein, aber auch das Politische Sekretariat sei nicht mehr imstande, diese Aufgabe zu erfüllen, denn es habe nur noch eine Beziehung zur Macht und keine Beziehung mehr zur Revolution. Das Politische Sekretariat sei von der Revolution abgekapselt. Die Erhaltung seiner Macht sei ihm wichtiger als die Veränderung der Welt, weil jede Macht dazu neige, den Staat, den sie beherrsche, und die Partei, die sie kontrolliere, zu stabilisieren. Der Kampf gegen das Politische Sekretariat sei deshalb für den Fortgang der Revolution unumgänglich. Diese Notwendigkeit müsse das Politische Sekretariat einsehen und seine Selbstauflösung beschließen. Ein echter Revolutionär liquidiere sich selbst, schloß er seine Rede. Auch liege gerade in der Furcht vor einer Säuberung, die einige Mitglieder des Politischen Sekretariats befallen habe, der Beweis, daß eine solche Liquidierung notwendig sei und daß sich das Politische Sekretariat überlebt habe.
G’s Rede war perfid. Der Teeheilige sprach nach seiner Gewohnheit lehrerhaft, humorlos, trocken. N erkannte erst allmählich G’s List, mit abstrakten Sätzen A’s Absichten derart verschärft wiederzugeben, damit sich das Politische Sekretariat zur Wehr setzen mußte. Die Säuberung, die alle befürchteten, stellte der Teeheilige als einen notwendigen Prozeß dar, der schon begonnen hatte. Indem er den Untergang der alten Garde, all die Schauprozesse, Entwürdigungen und Hinrich-tungen als politisch gerechtfertigt darstellte, rechtfertigte er auch die kommende Säuberung. Damit legte er jedoch die Entscheidung, ob es zu dieser Säuberung kommen sollte, in die Hände ihrer möglichen Opfer und beschwor für A eine wirkliche Gefahr herauf.
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Ein Blick auf A genügte N: A erkannte die Falle, in die ihn G
gelockt hatte. Doch bevor A einzuschreiten vermochte, ereig-nete sich ein Zwischenfall. Die Ministerin für Erziehung M, die neben dem Staatspräsidenten K saß, sprang auf, schrie, Marschall K sei ein Schwein. Auch N, dem Staatspräsidenten schräg gegenüber, spürte, daß seine Schuhe in einer Pfütze standen. Das Staatsoberhaupt, alt und krank, hatte Wasser gelassen. Der aufgedunsene Gin-gis-Khan wurde aggressiv, brüllte, was denn daran sei, nannte M eine prüde Ziege, brüllte, ob man ihn denn für so idiotisch halte, hinauszugehen, um zu pissen, er wolle nicht verhaftet werden, er würde diesen Raum nicht mehr verlassen, er sei ein alter Revolutionär, er habe für die Partei gekämpft und gesiegt, sein Sohn sei im Bürgerkrieg gefallen und sein Schwiegersohn und alle seine alten Freunde seien von A verraten und vernichtet worden, obgleich sie, wie er, ehrliche und überzeugte Revolutionäre gewesen seien, und daher lasse er sein Wasser wann und wo er wolle.
Die ungestüme Reaktion A’s, die nun auf diesen peinlichen und grotesken Vorfall folgte, überraschte N weniger durch die Leidenschaft, womit der Staatschef eingriff, sondern mehr, weil er A’s Angriff als geradezu kopflos empfand; so, als ob es A gar nicht darum ginge, jemand Bestimmten
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