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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Vorfälle, die sich erst jetzt rächen konnten, weil erst jetzt die Stunde der Rache gekommen war. A war launisch. Er setzte seine Macht sinnlos ein, er erteilte Befehle, die beleidigen mußten, seine Wünsche waren grotesk und barbarisch, sie stammten von seiner Menschenverachtung, aber auch von seinem wilden Humor, er liebte bösartige Spaße, doch niemand goutierte sie, alle fürchteten sich vor ihnen und sahen in diesen Spaßen nichts als heimtückische Fallen. N dachte unwillkürlich an einen Zwischenfall, der D beleidigt haben mußte, den mächtigen Parteisekretär. N hatte sich immer vorgestellt, daß D einmal zurück-schlagen würde. D vergaß keine Erniedrigung und konnte warten. Die Gelegenheit zur Rache mußte jetzt gekommen sein. Die Affäre war skurril und gespenstisch. Die Wildsau erhielt damals von A den verblüffenden Auftrag, eine Damen-kapelle aufzutreiben, die vor A nackt Schuberts Oktett spielen sollte. D mußte sich wutschnaubend über den idiotischen Befehl und zu feige, ihn abzulehnen, an die Ministerin für Erziehung und Kultur wenden, die Parteimuse wandte sich ebenso empört und feige wie D an die Konservatorien und Musikhochschulen; die Mädchen mußten ja nicht nur musikalisch ausgebildet, sondern auch gut gewachsen sein. Es ereig-neten sich Zusammenbrüche und Katastrophen, Schreikrämpfe, Tobsuchtsanfälle. Eine der begabtesten Cellistinnen beging Selbstmord, wieder andere rissen sich darum, aber waren zu häßlich; endlich hatte man das Orchester beisammen, nur eine Fagottistin war nicht aufzutreiben. Die Wildsau und die Parteimuse zogen die Staatstante zu Rate. C ließ kurzerhand eine bildschöne Dirne mit stattlichem Hintern aus einem Korrekti-onshause ins Staatliche Konservatorium schleppen, das Pracht-stück war musikalisch völlig unbegabt, aber in einem unmenschlichen Dressurakt wurde ihm das zum Oktett benötigte Fagottspiel beigebracht, auch die übrigen Mädchen übten auf Tod und Leben. Endlich saßen sie nackt im eiskalten Saal der 47

    Philharmonie, die Instrumente an ihre Leiber gepreßt. In der ersten Parkettreihe saßen in Pelzmänteln und mit steinernen Gesichtern D und M und warteten auf A, doch der kam nicht.
    Statt dessen füllte sich der Barockraum mit Hunderten von Taubstummen, welche die verzweifelt geigenden und blasen-den nackten Mädchen verständnislos und gierig anglotzten. A darauf lachte bei der nächsten Sitzung des Politischen Sekretariats unbändig über das Konzert und nannte D und M Narren, weil sie einem solchen Befehl nachgekommen seien.

    D’s Stunde war gekommen. A’s Sturz vollzog sich nüchtern, sachlich, mühelos, gleichsam bürokratisch. Die Wildsau befahl, die Türen zu verschließen. Das Denkmal erhob sich schwerfällig, verschloß zuerst die Türe hinter dem Schuhputzer und dem Jüngeren der Gin-gis-Khane und dann die hinter dem Teeheiligen und der Ballerina. Darauf warf er die Schlüssel zwischen die Wildsau und Lord Evergreen auf den Tisch. Das Denkmal setzte sich wieder. Einige Mitglieder des Politischen Sekretariats, die aufgesprungen waren – als wollten sie das Denkmal hindern, ohne es jedoch zu wagen –, setzten sich auch wieder.
    Alle saßen, die Aktentaschen vor sich auf dem Tisch. A schaute von einem zum andern, lehnte sich zurück, zog an seiner Pfeife. Er hatte das Spiel aufgegeben. Die Sitzung gehe weiter, sagte die Wildsau, es wäre interessant, zu erfahren, wer nun O
    eigentlich habe verhaften lassen. Die Staatstante entgegnete, es könne sich nur um A handeln, auf der Liste sei O nicht angeführt, und er als Chef der Geheimpolizei sähe überhaupt keinen Grund, O, der doch nur ein zerstreuter Wissenschaftler sei, zu verhaften. O sei ein Fachminister und unersetzlich, ein moderner Staat brauche die Wissenschaftler mehr als die Ideologen.
    Das müsse sogar der Teeheilige langsam kapieren. Nur A kapiere es anscheinend nie. Der Teeheilige verzog keine Miene. »Die Liste!« verlangte er sachlich, »sie wird uns Klarheit bringen.« Die Staatstante öffnete seine Aktentasche.

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    Er reichte ein Papier zuerst Lord Evergreen, der es nach kur-zem Überlesen dem Teeheiligen zuschob. Der Teeheilige erbleichte. »Ich bin auf der Liste«, murmelte er leise, »ich bin auf der Liste. Dabei bin ich doch immer ein linientreuer Revolutionär gewesen. Ich bin auf der Liste«, und dann schrie der Teeheilige plötzlich auf: »Ich war der Linientreuste von euch allen, und nun soll ich liquidiert werden. Wie ein Verräter!«
    Die Linie sei

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