Der Sucher (German Edition)
»Rennt! Rennt, so schnell ihr könnt!«
Nur Ynea und Joelle begriffen, was vor sich ging, und nur Ynea rannte tatsächlich los. Joelle wand sich hilflos im Griff zweier Soldaten.
Wie erstarrt beobachtete ich das Geschehen. Die regennasse Luft begann zu flimmern, zu wabern, sich zu verdichten, und auf einmal wuchs mitten unter uns eine halb durchscheinende Gestalt, erst so groß wie ein Mensch, dann so hoch wie ein Baum, schließlich so massig wie ein Berg. Sie hatte vage menschliche Umrisse, aber den zähnestarrenden Kopf eines Jägerfischs und silbrig glänzende Augen voller Wut. Verächtlich blickte sie um sich auf die winzigen Gestalten auf dem Gebirgspfad.
Mit offenen Mündern blickten Cyprio und seine Leute zu der Erscheinung auf, dem wütenden Gott aus Wasser und Luft. Als sie endlich auf die Idee kamen zu fliehen, hatten sie wertvolle Zeit verloren.
Ich ließ die Schale fallen und wollte losrennen, auf Joelle zu, um ihr zu helfen, sie zu holen. Doch ich kam nur ein paar Schritte weit. Die Luft schien sich um mich zu verdichten, hieb auf mich ein. Ich stürzte, bekam keine Luft mehr. Wie in Wasser extremer Tiefe war der Druck so stark, dass ich dachte, er würde mich zerquetschen.
Doch das Band des Sturmläufers – Targons alten Widersachers – war ebenfalls erwacht; stark und lebendig lag es um mein Handgelenk.
Wahrscheinlich hatte ich nur durch seinen Schutz den ersten Zwischenfall im Kerker überlebt. Auch diesmal gab Targon den Versuch, mich zu töten, nach ein paar Augenblicken auf und wandte sich den anderen Menschen auf dem Pfad zu.
Von Grauen gepackt beobachtete ich, wie er mit unsichtbaren Fäusten auf sie eindrosch, sie hochwirbelte, bis ihre Schreie verstummten. Blut durchtränkte den Pfad. Andere Soldaten schleuderte Targon einfach in den Abgrund. Ich sah, wie Cyprio vom Pfad ins Nichts gefegt wurde, und mit hilflosem Entsetzen musste ich mit ansehen, wie ein Schlag die Gruppe um Joelle traf. Einige ihrer Bewacher stürzten über die Bergflanke, hatten kaum Zeit für einen letzten Schrei.
Joelle wurde von den Füßen gerissen und weggeschleudert; hilflos rollte sie über den Pfad, über das schmale, steile Wiesenstück daneben, auf dem nur ein paar verkrüppelte Büsche wuchsen. Auf die Schlucht zu.
Ich rannte los. »Halt dich irgendwo fest!«, brüllte ich ihr zu.
Instinktiv breitete Joelle Arme und Beine aus und grub Finger und Fersen in den Boden. Einen Moment lang gelang es ihr, den Fall zu bremsen. Ich war ihr gefolgt, schlidderte auf dem Geröll und den nassen Grasbüscheln selbst gefährlich nahe an die Kante. Schon fast nah genug, um ihre Hand zu greifen. »Tjeri!«, schluchzte sie. »Hilf mir, bitte!«
»Streck die Hand aus!«, keuchte ich. »Ganz ruhig. Gleich hab ich dich wieder oben.«
Unsere Finger näherten sich einander ...
... und dann schlug der siebte Gott der Tiefe noch einmal zu, beiläufig, nur mit halber Kraft. Das Stück Erde und Fels, an dem sich Joelle festgehalten hatte, brach ab und verschwand in der Tiefe. Einen Moment lang sah ich noch Joelles entsetzte, weit aufgerissene Augen.
Dann war sie verschwunden. Targon bewegte sich weiter zum Pass, mit dem tiefen Rauschen wirbelnder Luft.
Auf dem Bauch kroch ich an den Abgrund heran, blickte in die graue Tiefe. Verzweifelt hielt ich Ausschau nach Joelle, hoffte gegen jede Vernunft, dass sie sich irgendwo hatte festhalten können. Doch es war nicht Joelle, die ich sah ... sondern Cyprio. Er hing zwei Menschenlängen unter mir, sein Umhang hatte sich in einem der Büsche verfangen. Um einen besseren Halt zu bekommen, hatte Cyprio die dünnen Spinnenfinger ins Gestein gekrallt, doch es bröselte immer wieder weg; auf diese Art würde er sich nicht halten können.
»Hilfe!«, schrie er, als er mich sah. »Los, Sucher, zieh mich hoch!«
Sucher . Als Sucher hatte ich mein Leben der Aufgabe gewidmet, anderen Menschen zu helfen. Doch mein Körper wollte sich einfach nicht bewegen. Ich starrte Cyprio an und sah seine hasserfüllten Augen, in denen ein Echo von Targon zu liegen schien. Dieser Mann hatte alles getan, um mich zu quälen, ohne ihn wäre Joelle hier neben mir. Aber konnte ich ihn einfach so sterben lassen? Er war ein Mensch, und er war in Gefahr ...
Ein grauer Kopf mit spitzen Ohren, ein struppiger Katzenkörper, tauchte neben mir auf. Mi‘raela. Erschrocken spähte sie den Hang hinunter und tastete mit der vorderen Pfotenhand nach einem Halt, um den gefährlichen Abstieg zu wagen und dem Menschen in
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