Der Suender und die Lady
jeden einzelnen Knochen im Leib und spare mir das Genick auf bis zum Schluss. Hast du verstanden, Mädchen?“
„Ja, Papa“, sagte sie und bekräftigte ihre Worte mit einem Nicken. Jetzt hätte sie, berauscht von ihrem Sieg, das Zimmer verlassen sollen. Doch sie musste noch ihre Frage stellen. „Du hast gesagt, Miranda wäre entführt und ruiniert, vielleicht sogar getötet worden. Warum hast du Onkel Seth gegenüber behauptet, du wärst sicher, dass sie nach Gretna Green durchgebrannt ist? Wolltest du ihm Kummer ersparen?“
Ihr Vater sah sie lange an, bevor er antwortete. „Ja. Ich wollte ihm Kummer ersparen. Ich bin nicht das lieblose Ungeheuer, das du manchmal in mir siehst, Regina. Ich habe mich einverstanden erklärt, dich und deine Mutter mit deiner Tante Claire aufs Land zu schicken, nicht wahr? Alles nur, um den guten Ruf deiner Cousine zu wahren.“
Er hatte sich gerade selbst widersprochen. Er konnte nicht glauben, dass Miranda entführt und getötet oder in einen ausländischen Hafen verschifft worden war, und gleichzeitig behaupten, dass er sich mit Vorgehensweisen einverstanden erklärte, die ihren guten Ruf wahrten, bis sie auf dem Weg nach Gretna Green eingeholt wurde.
Regina hielt es für besser, ihn nicht darauf hinzuweisen.
Stattdessen wappnete sie sich, ging um den Schreibtisch herum, legte die Arme um den Nacken ihres Vaters und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir so leid, Papa. Und ich schäme mich meiner flüchtigen Faszination von Mr Blackthorn. Vielleicht habe ich die Dankbarkeit für meine rechtzeitige Rettung mit etwas anderem verwechselt. Ich werde dich nie wieder belügen.“
Und mit dieser Lüge verließ sie das Arbeitszimmer und stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, wo sie das Fenster öffnete, das zur Seite des Hauses mit den geschlossenen Vorhängen in knapp drei Meter Entfernung ging. Sie ließ unterhalb der Fensterbank ein weißes Taschentuch flattern, so, dass es vom Boden aus gesehen werden konnte, bevor sie das Fenster wieder schloss.
Und dann ging sie zu ihrer Mutter, um ihr eine weitere Lüge zu erzählen: dass sie am Sonntagmorgen beim ersten Tageslicht mit Mirandas bekümmerter Mutter nach Mentmore aufbrechen würden.
5. KAPITEL
P uck beschloss, Dickie Carstairs zu folgen. Zum einen war er der größere von den beiden Männern und daher leichter im Auge zu behalten – wenngleich diese Feststellung, Gaston gegenüber beiläufig geäußert, in erster Linie seiner eigenen Belustigung diente. Der wirkliche Grund aber für seine Entscheidung bestand darin, dass der Mann anscheinend nicht halb so intelligent war wie sein Freund Baron Henry Sutton.
Der Ehrenwerte Richard Carstairs begann seinen Samstagabend in seinem Club, einem der unbedeutenderen am Ende der Bond Street; mit einem Mädchen und drei Freunden teilte er sich dort eine Flasche Wein.
Von dort aus begab er sich allein weiter zum Theater, genauer gesagt nach Covent Garden, wo Puck, der sonst niemals einen Fuß in das Gebäude gesetzt hätte, eine Schmierenkomödie und die Darbietungen dreier Sängerinnen ertrug, von denen nur eine genügend Talent besaß, um die Töne einer Melodie annähernd zu treffen.
In der zweiten Pause tauchte der Baron auf, bahnte sich scheinbar lässig seinen Weg durch das bevölkerte Foyer, um dann rein zufällig auf Mr Carstairs zu stoßen.
Beide bekundeten eine gewisse Überraschung angesichts des Treffens, jonglierten unbeholfen mit ihren Gläsern, um einander die Hände schütteln zu können, und trennten sich dann wieder, wobei Mr Carstairs prompt den Zettel fallen ließ, den der Baron ihm beim Händeschütteln zugesteckt hatte. Er schaute sich verzweifelt um, hoffte, dass niemand etwas bemerkt hatte, und bückte sich, um das Papier aufzuheben.
Wahrlich, dachte Puck, der abseits stand und aus seinem Weinglas trank, die Farce, die in der zweiten Pause gegeben wurde, war für sich allein genommen schon den Eintritt wert.
Als der Gong das Publikum daran erinnerte, dass das Bühnenstück fortgesetzt wurde, überließ Puck den Baron erneut sich selbst und folgte Mr Carstairs, um sich zu vergewissern, dass der Mann tatsächlich wieder in seine private Loge trat.
Doch alles in allem – und Puck achtete stets darauf, alles zu berücksichtigen – gab es berechtigte Zweifel, dass der liebe Dickie noch lange bleiben würde. Aus diesem Grund nickte Puck in die Richtung des treu ergebenen Gaston, der sogleich sein Versteck verließ, um auf die Straße
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