Der Suender und die Lady
Zeitpunkt ihres Verschwindens aufgehalten hatte. Nein, nicht um sie zu schützen, sondern um zu verbergen, dass er seine Tochter nicht so streng unter Kontrolle hatte, wie er seinen Schwager glauben machen wollte. Das ergab viel mehr Sinn. In dem Wissen, dass sie im Begriff war, etwas zu tun, was alle Streiche Mirandas zusammengenommen wie einen unschuldigen Spaziergang im Park aussehen lassen würde, senkte Regina den Kopf und betrachtete eingehend ihre ineinander verschränkten Finger.
„Ich werde in dieser Saison keine Gesellschaften mehr besuchen“, unterbreitete sie den beiden Männern. „Nicht ohne Miranda. Tante Claire ist viel zu sehr außer sich, um mich begleiten zu können, und Mama …“ Letzteres ließ sie in der Luft hängen, damit die beiden Männer ihre eigenen Schlüsse zogen. Leticia Hackett hatte erfahren, was ihrer Nichte zugestoßen war, und unverzüglich Trost bei ihrem treuesten Freund und Begleiter gesucht: dem vergorenen Traubensaft. Dem Druck, sich in der Gesellschaft zeigen und dreiste Lügengeschichten über den Verbleib ihrer Nichte erzählen zu müssen, würde sie niemals standhalten. Wirklich, gegen zehn Uhr am Vormittag hatte sie sich eingeredet, dass sie zum Zeitpunkt des Überfalls nicht nur selbst in der Kutsche gesessen, sondern sogar versucht hatte, ihre Tochter und ihre Nichte zu verteidigen. Dass ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt waren, hatte sie ohne Umschweife wieder zur Weinkaraffe greifen lassen.
Regina fühlte sich abscheulich wegen dieses Teils des Täuschungsmanövers und tröstete sich lediglich damit, dass ihre Mutter noch viel schlimmer reagieren würde, wenn sie die Wahrheit wüsste … Nämlich dass ihre Tochter eine Veranstaltung besucht hatte, die vermutlich schon bald als die Orgie der Saison bekannt sein würde. Allein die Tatsache, dass Reginalds Name auf der Gästeliste gestanden hatte, bewies ja, dass dieser Ball allen möglichen nicht standesgemäßen Personen zugänglich gewesen war.
„Was meine Tochter damit sagen will, Seth, ist, dass deine Schwester gehörig einen in der Krone hat und so bald nicht wieder ansprechbar ist.“
„Du solltest ihr das Trinken nicht erlauben“, brachte Seth zur Verteidigung seiner Schwester vor, schien sich aber sogleich eines Besseren zu besinnen und milderte seine Schelte ab. „Allerdings findet jede Seele Trost auf ihre eigene Art.“
„Letty mag den feuchten Trost am liebsten“, scherzte Reginald und schickte seinem kleinen Witz ein Lachen hinterher. „Meine Frau ist eine Trinkerin, Seth. Deine Schwester säuft. Und du bist ein Schwamm. Du und dein Vater, ihr saugt mich aus mit euren Spielschulden. Dein dämlicher Sohn war von Anfang an ein Versager, und deine Tochter ist eine Hure. Da habe ich mich in eine schöne Familie eingekauft, nicht wahr? Ihr seid kein gutes Geschäft, ihr alle.“
Der Viscount wollte unter Protest hochfahren, erinnerte sich aber wohl früh genug daran, dass Schwämme kein Rückgrat besitzen – und keine mit dem Geld des Schwagers gefüllten Taschen – und setzte sich wieder. „Ich finde Reginas Vorschlag gut, vorausgesetzt, sie ist bereit, das Opfer zu bringen. Du bist ein gutes Mädchen, Regina“, sagte er und wandte sich mit den letzten Worten seiner Nichte zu.
„Ich denke nur an Miranda, Onkel. Und, ja, egoistischerweise auch an mich. Ohne Miranda würde ich den Rest der Saison nicht genießen können.“
„Du solltest dich schon einmal daran gewöhnen, denn sie kommt nicht zurück, nicht von dem Ort, an dem sie sich jetzt aufhält.“
Der Viscount hob den Kopf, den er zwischen den hochgezogenen Schultern hatte hängen lassen. „Du sagst das, als wüsstest du Näheres, Reg. Von dem Ort, an dem sie sich aufhält?“
Regina und ihr Vater tauschten einen Blick. Sie war davon ausgegangen, er wäre der Meinung, dass Miranda aus freien Stücken durchgebrannt wäre, auch wenn er seiner Tochter die grauenhaften Dinge geschildert hatte, die ihrer Cousine hätten widerfahren können. Sie hatte sogar überlegt, ob er auf diese merkwürdige Weise ihre Tante und ihren Onkel aufmuntern wollte, indem er ihnen bestätigte, dass Miranda wohl ein schreckliches, undankbares Kind war, aber nicht in Gefahr schwebte.
Jetzt wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte.
„Ja, Seth, von dem Ort, an dem sie sich aufhält. Ich an deiner Stelle würde die Runner in Richtung Gretna Green schicken, und in Anbetracht der Tatsache, dass ich mit meinem Geld dafür bezahle, wirst du
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