Der suendige Engel
sollte sie hier oben in der Luft veranlassen, umzukehren?
Die Antwort erfuhr sie im nächsten Moment. Mit voller Wucht prallte sie gegen eine unsichtbare Mauer. Für einen kurzen Moment schwanden ihr die Sinne. Sie trudelte nach unten, hinab in die Tiefe.
Gerade noch rechtzeitig kam sie wieder zu Bewußtsein. Sie entfaltete ihre Schwingen und fing den Sturz zehn Meter über dem Erdboden ab. Schnell gewann sie wieder an Höhe; diesmal jedoch hütete sie sich, allzu hoch zu fliegen.
Trotz des fast tödlich ausgegangenen Sturzes war sie voll des Triumphes. Rank'Nor hatte die Wahrheit gesagt: Al'Thera war von der Außenwelt abgeschnitten. Niemand würde jemals die Mauern der Stadt überwinden und ihr ihre neue Stellung streitig machen können. Und die Nachricht von ihrem Bruch des Kodex würde nie von anderen Vampirsippen gehört werden.
Aus der Luft wirkte Al'Thera noch größer und mächtiger. Von hier oben war deutlich zu erkennen, warum man sie die »Stadt der fünf Ringe« nannte.
Und rings um ihre Mauern herrschte nur noch Schwärze .
Am liebsten wäre Salea noch stundenlang weiter durch die Nacht geflogen. In der Luft fühlte sie sich noch mehr als am Boden als Herrscherin über die Stadt. Aber zunächst drängte es sie zu Rank'Nor zurück.
Sie steuerte den Palast an und landete wieder auf dem Fenstersims. Ihre Rückverwandlung ging ebenso schnell vonstatten wie die Transformation zuvor. Als nackte Schönheit sprang sie vom Fenstersims direkt in das Zimmer und landete federnd auf dem kissenbedeckten Liebeslager. Verlangend streckte sie ihre Arme nach Rank'Nor aus. Das Gefühl des Triumphes hatte erneut ihr Verlangen nach ihm geweckt. Auch er schien einer Fortsetzung der Liebesnacht nicht abgeneigt.
»Nun?« fragte er. »Habe ich dir zuviel versprochen?«
»Eher zu wenig«, sagte sie. »Ich habe nicht geahnt, daß es so voll-kommen sein würde!«
»Nun«, sagte er geschmeichelt. »Immerhin hast du mir nicht gerade wenig dafür zu bieten. Und das, was ich bislang als Anzahlung erhalten habe, findet durchaus mein Wohlgefallen.«
»Meinst du mich - oder die schwarzen Seelen meiner Artgenossen?« fragte sie neckisch.
»Ich bin fast geneigt, dem ersten den Vorzug zu geben.«
Rank'Nor hatte zwei Bedingungen gestellt. Die erste war leicht zu erfüllen gewesen. Er hatte verlangt, daß sie seine Geliebte wurde. Die zweite Bedingung hatte ihr am Anfang mehr Kopfzerbrechen bereitet: ihm die Seelen ihrer Artgenossen zuzuführen. Dies verstieß eindeutig gegen den Kodex.
Dennoch hatte sie keine Gewissensbisse verspürt. Und die vergangenen Stunden hatten sie gelehrt, daß sie in dieser Hinsicht nicht die geringste Reue empfand. Auch in Zukunft würde sie keine Schwierigkeiten damit haben, sich an diesen Teil des Paktes halten.
Der Stein des schwarzen Blutes würde weiterhin seinem Namen alle Ehre machen. Allerdings nicht zu Ehren Gandhara Sas-Bahus, des legendären Gründers, und nicht nur zu jedem hundertsten Mond.
Sie würde eine neue Legende ins Leben rufen. Von nun an würden die schwarzen Seelen der Vampire zu Ehren Rank'Nors geopfert werden .
*
Al'Thera, Stadt der Vampire, im achten Mond des siebten Jahres des letzten Jahrzehnts im zwanzigsten Jahrhundert (1996)
Die Stadt selbst hatte sich kaum verändert. Ihre Lage, gefangen zwischen den Dimensionen, schien sie und alles darin für die Ewigkeit konserviert zu haben. Von der Außenwelt abgeschnitten, waren die Vampire von der natürlichen, durch ihre Umwelt bedingte Evolution ausgenommen gewesen. Während sich die Blutsauger in der Welt der Menschen verändert hatten, waren längst vergangene Lebensweisen in Al'Thera erhalten geblieben. Überall sonst waren Gefühle wie Vertrauen, Zuneigung oder gar Liebe abgestorben; hier existierten sie noch immer. Nirgendwo sonst gab es noch Familien unter den Vampiren; sie waren vor langer Zeit von Sippen abgelöst worden.
Und auch der Lilienkelch hatte nie wieder den Weg nach Al'Thera gefunden. Nur die menschlichen Sklaven konnten sich fortpflanzen und so die Versorgung sichern; die Zahl der Vampire jedoch verringerte sich mit jedem Opfer, das die Herrscherin der Stadt befahl. Noch waren es Zehntausende, doch der Zeitpunkt nahte, an dem Sa-lea sich über dieses Problem Gedanken würden machen müssen.
Aber soweit war es noch nicht.
Gelangweilt rekelte sich das frühere Sippenoberhaupt auf dem Diwan. In den über tausend Jahre, die sie nun als unangefochtene Herrscherin über Al'Thera waltete, war sie um keine
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