Der suendige Engel
wie eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden agierte. Mit langsamen, ungelenken Bewegungen schlurfte sie durch die Gänge. Die Bilder in ihrem Kopf leiteten sie.
Vor ihrem geistigen Auge tauchte eine Gestalt auf; ein Mann. Ma-grador war sein Name! Ihr . Geliebter!
Trotz der Leere und dem völligen Fehlen eines eigenen Impulses versetzte sie dieses Bild in Aufregung, und sie beschleunigte ihre Schritte - eine Hast, die ihr verheerter Körper nicht mehr koordinieren konnte.
Mit ihrem Kopf stieß sie gegen die Mauern. Hautfetzen fielen herab. Knochen splitterten. Aber selbst dies verscheuchte nicht die Bilder in ihr. Gehorsam setzte sie einen Fuß vor den anderen.
Bis sie plötzlich stehenblieb. Vor ihr stand eine Gestalt im Gang, die sie erst nach Sekunden erkannte, obwohl das Bild längst in ihren Gedanken war: Magrador.
Etwas wie ein Lächeln glitt über ihre Züge - eine Regung, die angesichts ihres Zustands zu einer schlechten Karikatur verkam. Cala-ra hob die Arme und taumelte auf den Geliebten zu.
Diesmal hielt sich Rank'Nor nicht mit einem grausamen Vorspiel ab. Diese Kreatur war ohnehin nicht mehr fähig, Gefühle wie Hoffnung oder Enttäuschung zu empfinden.
Hungrig stürzte er sich auf Calara, um sich an ihrer schwarzen Seele zu laben. Das Aussehen des Wesens war ihm gleichgültig. In dieser Hinsicht war er weniger wählerisch als seine herrschaftliche Geliebte.
Für Calara bedeutete es die Erlösung.
*
Was Rank'Nor angekündigt hatte, trat ein. Vergeblich hoffte Salea, daß er und seine Kumpane wieder verschwinden würden. Das Gegenteil war der Fall. In ganz Al'Thera hatten sich die Kreaturen eingerichtet und labten sich an den schwarzen Seelen der Vampire. Die Sippenführer, die ebenfalls die Seuche überstanden hatten, fielen ihnen zuerst zum Opfer. Hatte Salea erst gehofft, sich der Hilfe ihrer Schicksalsgenossen versichern zu können, so war bald auch diese vage Zuversicht dahin.
Und nach wie vor besuchte Rank'Nor sie in ihren Gemächern. Doch was ihr früher selbst Freude bereitet hatte, wurde nun zu endlosen Stunden der Qual.
Die wenigen Menschen, die den unstillbaren Blutdurst der Vampire überlebt hatten, waren in den Palast getrieben und dort gefangengesetzt worden. Wann immer Salea es wünschte, konnte sie sich an ihnen laben.
Mehrmals versuchte sie die Menschen zu hypnotisieren. Vielleicht war es ja möglich, daß sie einen von ihnen dazu zwingen konnte, sie zu töten. Aber sie merkte schnell, daß sie mit ihren Gedanken nicht an sie herankam. Sie standen unter Rank'Nors allmächtigem Bann. Und auch die Vampir-Zombies waren in dieser Hinsicht keine Hilfe: Sie reagierten nicht auf Saleas Todeswunsch.
Fliehen konnte sie ebensowenig. Sie hatte es versucht, war aber, wie Dutzende Male zuvor, an der unsichtbaren Barriere gescheitert, die Al'Thera von der Außenwelt abschirmte und die Stadt zwischen den Dimensionen hielt.
Salea war eine Gefangene, der es noch nicht einmal vergönnt war, in den Tod zu flüchten .
*
Wochen später
Die Tempelbauten lagen still und verlassen da. Sie wirkten noch vergessener als zu den Zeiten, bevor die schreckliche Seuche über Al'Thera gekommen war.
Salea hielt sich dicht bei den schwarzen Mauern. Die ringförmig angelegten Gebäude mit ihren in sich verwinkelten Wegen und Durchgängen boten ihr genügend Verstecke.
Eine Bewegung auf dem Hintergrund des schwarzen Himmels über ihr ließ sie rasch in einen Gebäudeeingang huschen. Hoch oben flog eine der monströsen Kreaturen dahin, fast unsichtbar inmitten der Schwärze. Offensichtlich hatte sie sie nicht entdeckt. Salea atmete auf. Vorsichtig schlich sie weiter und drang in den inneren Bereich der Tempelanlage vor.
Sie versuchte sich zu orientieren. Es war viele Jahrhunderte her, seit sie das letztemal hiergewesen war. Irgendwo mußte es einen Abstieg zu den Katakomben unter der Anlage geben.
Dort lag Saleas letzte Hoffnung. Und sie gründete auf purer Spe-kulation.
Sie wußte, daß sich hier vor Ausbruch der Seuche Magier und Gelehrte zusammengerottet hatten, die ihr Wissen nutzen wollten, um ihre, Saleas, Schreckensherrschaft zu beenden. Der Tempelbereich lag weit von den übrigen, bewohnten Stadtbezirken entfernt; vielleicht war ja einer dieser Umstürzler von der Seuche verschont geblieben und hatte sich in den Katakomben verborgen.
Wie gesagt: Es war eine schwache Hoffnung, und im Grunde ihres schwarzen Herzens glaubte Salea selbst nicht recht daran. Dennoch war es ihr einen Versuch
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