Der sueße Kuss der Luege
gibt, und rufe sie an.
Sie freut sich, von mir zu hören, und sie freut sich noch mehr, dass es Ida gut geht, und findet es eine prima Idee, wenn ich sie besuchen komme, weil sie, um sich von all der Aufregung abzulenken, gerade frischen Riwwelkuche gebacken hat, der dringend gegessen werden sollte. Sie erklärt mir, wie ich zu ihr ins Gallus-Viertel komme, das nur ein paar S-Bahn-Stationen vom Krankenhaus entfernt liegt.
Lu am Freitag, dem 8. Juni 2012, 18:00 Uhr
Ich gehe an gammelig wirkenden Wohnblocks und einer bescheidenen Parkanlage vorbei an kleinen Kindern und ihren Müttern, die fast alle mit Burkas verhüllt sind, und biege dann in die schmale Seitenstraße, deren Namen ich nicht lesen kann, weil irgendein Witzbold Gallus-Bonzenviertel in Neongrün daraufgesprüht hat. Dabei stehen hier keine Villen, sondern nur Miniatur-Einfamilienhäuschen mit Handtuch-Gärten drum herum.
Nummer acht fällt mir sofort auf, denn hier ist alles besonders ordentlich. Statt eines rostfarbenen Rasens mit Unkraut darin blicke ich auf einen breiten, grau gefliesten Weg, rechts und links von schmalen Rosenbeeten gesäumt, die jetzt schon voll dicker rosa und gelber Knospen sind.
Vorn an der Grundstücksgrenze zur Straße steht ein kleiner Müllcontainer, der all die hässlichen Abfalltonnen verdeckt. Genauso hätte ich mir Andreas Haus auch vorgestellt, allerdings hätte ich gewettet, sie wohnt in einem gediegeneren Viertel als im Gallus.
Als ich klingele, macht sie mir sofort auf und winkt mir freundlich entgegen.
Im Haus duftet es nach frischem Streuselkuchen und nach Kaffee.
»Schön, dass du hier bist«, begrüßt sie mich. »Ich hoffe, es ist noch nicht zu spät für einen Kaffee?«
Ich bin überrascht, wie es in dem Haus aussieht.
Von außen hat es sehr schmal und eng gewirkt, aber im Innenbereich sind alle Wände herausgerissen worden, sodass man vom Flur direkt in einen großen hellen Raum blickt, an dessen Wand umlaufend Holzstangen angebracht sind wie für eine Balletttänzerin.
Andrea bemerkt meinen Blick.
»Ich habe das für meinen Sohn umbauen lassen«, erklärt sie, aber ich verstehe nicht wirklich, was sie damit meint.
Sie führt mich zu einem runden, schon gedeckten Esstisch, auf dem eine dunkelblaue Wachstuchdecke mit gelben Sonnenblumen liegt, und bittet mich, auf einem der drei griechischen Flechtstühle Platz zu nehmen. Dann verschwindet sie in der Küche, um den Kaffee zu holen. Von meinem Platz aus sehe ich auf ein Sideboard mit unglaublich vielen Fotos. Irgendwas daran kommt mir merkwürdig vor, aber ich kann nicht sofort sagen, was es ist. Unwillkürlich stehe ich auf und gehe hinüber, um die Bilder genauer anzuschauen. Jede Menge altmodische Babyfotos, dann einige Fotos von einem Jungen mit Schultüte, ein Junge beim Basketball, beim Schwimmen, beim Wandern, beim Skifahren und dann, größer und breiter geworden, mit einem blonden schlanken Mädchen. Die Parade geht weiter mit ihm in Bundeswehruniform, dann vor einem Panzer, auf einem wüstenartigen Rollfeld vor einer Militärmaschine, vor einem Hubschrauber, der inmitten einer grandiosen Bergkulisse steht. Ich entdecke ihn sogar in Galauniform mit anderen Soldaten zusammen vor einem Sarg und bei einer Ordensverleihung durch den damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler.
Jetzt wird mir klar, was mir merkwürdig vorkommt. Normalerweise zeigen Fotosammlungen die ganze Familie oder Freunde, aber hier ist immer nur einer abgebildet. Und vor allem die letzten Bilder, die vom Militär, bringen etwas in mir zum Klingen.
Andrea steht mit einem Mal hinter mir. »Das ist mein Sohn. Rainer.« Als ich mich zu ihr umdrehe, lächelt sie, als hätte sie einen Witz gemacht.
Ihr Sohn ist mit Orden überhäuft aus Afghanistan zurückgekehrt, erinnere ich mich. Ich fühle mich auf einmal mies, weil ich sie nicht schon viel früher mal nach ihrer Familie gefragt habe, nachdem mir angesichts der Fotos klar geworden ist, wie wichtig ihr Sohn für sie ist.
»Und was macht dein Sohn jetzt?«, frage ich sie.
Sie zögert einen Moment, dann lächelt sie wieder so komisch.
»Komm mit, ich zeige es dir.« Sie nimmt mich an der Hand und wir gehen zu dem einzigen anderen Raum im Erdgeschoss. Sie öffnet die Tür und deutet mit übertrieben großer Geste hinein, so wie die Assistentin eines Zauberers auf den durchtrennten Körper in der Kiste zeigt. Fehlt nur noch ein triumphierendes »Tataaaa!«.
Aber der beißende Geruch nach Desinfektion, Bettpfannen und
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