Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
war kein sexuelles Trauma zu erkennen, obwohl sie nackt aufgefunden worden war. Demütigung. Shaeffer erinnerte sich an den Stoß ordentlich zusammengefalteter Nachtwäsche in der Küchenecke. Ordentlich zusammengefaltet – von wem? Dem Opfer oder dem Mörder? Keine Hautrückstände unter den Fingernägeln.
Shaeffer warf den Stoß Papiere auf den Tisch. Führt uns kein bisschen weiter, dachte sie, jedenfalls soweit ich sehe.
Sie griff nach dem Tatortbericht und fand – wie oft schon – den Fachjargon irritierend. Der Tod auf denkbar knappe, nüchterne Formeln reduziert. Gemessen, gewogen, fotografiert, bestimmt. Bei dem Strick, mit dem das ältere Ehepaar gefesselt worden war, handelte es sich um eine Viertelzoll-Nylon-Wäscheleine, wie man sie in jedem Haushaltswarengeschäft oder Supermarkt kaufen konnte: zwei Stück, eines einhundertdrei Zentimeter lang, das andere achtundneunzig Zentimeter lang, beide waren von einer drei Meter siebzig langen Schnur abgeschnitten worden, die an der Hintertür gefunden worden war. Der Mörder hatte einen Henkersknoten geknüpft, den Opfern die Schlinge über die Hände gestreift und an den Handgelenken festgezurrt, dann je zwei weitere Schlingen angelegt und das Ganze mit einem einfachen Kreuzknoten zusammengebunden.
Ein gewöhnlicher, unauffälliger Knoten, am Tatort improvisiert. Stark genug, um bis zu einem schnellen Tod zu halten, bei mehr Zeit aber durchaus vom Opfer zu lösen. Das hatte etwas zu bedeuten: Das war keiner aus der Gegend, sondern kam von woanders her. Auf den Keys kannten sich die meisten Bewohner mit Tauen aus; sie hätten einen festeren Schifferknoten verwendet.
Sie nickte. Mitten in der Nacht. Er ist eingebrochen, hat sie überwältigt, gefesselt, geknebelt. Sie glaubten, es wäre ein Raubüberfall und Stillhalten wäre die angemessene Überlebenstaktik. Keine Chance. Er hat sie einfach umgebracht. Schnell. Effizient. Das Ganze möglichst zügig hinter sich bringen. Lautlos mit dem Messer. Keine Schüsse, die neugierige Nachbarn auf den Plan rufen könnten. Kein Raub. Keine Vergewaltigung. Kein Türknallen, kein aufheulender Motor, keine quietschenden Reifen.
Ein Mörder, der am Tatort erscheint, mordet und wieder geht, nachdem er sich gerade einmal die Zeit genommen hat, auf dem Tisch zwischen seinen Opfern eine Bibel aufzuschlagen. Außer seinen Opfern hat ihn niemand gesehen oder gehört. Alle Morde, überlegte sie, senden eine Botschaft aus: Die Leiche des Drogendealers, die halb verfault in den Mangroven entdeckt wird, mit einer einzigen Schussverletzung im Hinterkopf, goldene Armbanduhr und Diamantschmuck unangetastet an den Handgelenken, sendet eine Botschaft aus. Die junge Frau, die glaubt, nur dieses eine Mal könne sie spätabends vom Restaurant, in dem sie als Kellnerin jobbt, per Anhalter nach Hause fahren, und die nackt und vergewaltigt und tot drei Countys entfernt wieder auftaucht, eine andere. Der Tod eines alten Mannes im Wohnwagen, der irgendwann nicht mehr die Kraft hat, seine unheilbar krebskranke Frau zu pflegen, der sie und dann sich selbst erschießt und mit dem Hochzeitsalbum auf dem Schoß gefunden wird, kündet von einem eigenen Drama.
Sie betrachtete die Tatortfotos. Die Hochglanzabzüge erinnerten sie an die drückende Hitze in der Küche mit den Toten und den entsetzlichen Gestank der Leichen. Wenn an einem Tatort Zeit verstrich und die Verwesung einsetzte, war der letzte Rest an Würde, der von ihrem Leben übrig sein mochte, schnell verflogen. Außerdem spielte die Verzögerung den Ermittlern üble Streiche. Sie hatte gelernt, dass jede Minute, die nach einem Mord verstrich, die erfolgreiche Aufklärung erschwerte. Alte Fälle, bei denen man irgendwann doch noch einen Mörder hinter Gitter bringen konnte, schrieben Schlagzeilen. Aber für jeden Mord, der doch noch gesühnt wird, dachte sie, bleiben hundert auf der Strecke, jeder davon ein verworrenes Knäuel an Verdachtsmomenten und Spekulationen.
Zwei alte Menschen, die einen Serienmörder auf die Welt losgelassen haben, fallen selbst einem Mord zum Opfer. Was für ein seltsames Verbrechen.
Rache. Vielleicht Gerechtigkeit. Möglicherweise eine perverse Kombination aus beidem.
Sie ging die Tatortberichte weiter durch. Sie hatten zwei partielle Fußabdrücke in der Blutlache am Boden abgenommen. Das Sohlenprofil hatte die Forensik einem Paar knöchelhoher Reebok-Basketballschuhe zugeordnet, zwischen Größe neun und elf, und dieses spezielle Profil grenzte die
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