Der Sumpf: Psychothriller (German Edition)
letzte Chance« getauft, was die Angler stets auf die Fische bezogen, während es in Wahrheit auf seine prekäre Existenz anspielte.
Auch wenn ihre Mutter es nie zugeben mochte, vermutete sie, dass sie als Nachzüglerin mit über zehn Jahre älteren Brüdern eine Art Betriebsunfall ihrer in die Jahre gekommenen Eltern war. Die Brüder hatten die Keys so schnell verlassen, wie es ihnen das Alter und die Ausbildung erlaubten – der eine, um in Atlanta als Anwalt für Körperschaftsrecht zu arbeiten, der andere, um in Miami ein mehr oder weniger erfolgreiches Import-Export-Geschäft zu betreiben. In der Familie witzelten sie, dass er der einzige gesetzestreue und darum ärmste Importeur der ganzen Stadt war. Während sie an der University of Florida auf der Stelle trat und sich mit dem minimalen Notendurchschnitt für das Aufbaustudium begnügte, hatte sie zuerst in die Fußstapfen des einen, dann des anderen treten wollen.
Der Entschluss, zur Polizei zu gehen, war nach der Vergewaltigung gefallen.
Die Erinnerung schwärte wie eine nie verheilende Wunde in ihr. Es war zum Semesterende in Gainesville gewesen, kurz vor Sommereinbruch, heiß und schwül. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, zu der Party im Verbindungshaus zu gehen, doch nach einer Abschlussprüfung in Psychopathologie hatte sie sich ausgelaugt und lethargisch gefühlt und sich von ihren Mitbewohnerinnen zum Mitkommen überreden lassen.
Es war laut gewesen – Stimmengewirr, dröhnende Musik, zu viele Menschen auf zu engem Raum. Der alte Bau aus Holzständerwerk hatte unter der Menge gebebt. Bei der Hitze hatte sie zu schnell zu viel Bier getrunken, bis sie nicht mehr klar dachte und sich etwas benommen von der Menschenmenge leiten ließ.
Nachdem sie längst nicht mehr wusste, wo ihre Freundinnen abgeblieben waren, und sich erfolgreich gegen so manche Zudringlichkeit zur Wehr gesetzt hatte, war sie weit nach Mitternacht allein zu ihrem Wohnheim aufgebrochen. Sie war zwar so betrunken, dass sie sich ein wenig schwankend im spärlichen Licht der Sterne durch das Dunkel tastete, aber keineswegs so voll, dass sie nicht mehr heimgefunden hätte, nur eben so beschwipst, dass sie etwas länger brauchte.
Leichte Beute, dachte sie bitter.
Die zwei Männer, die hinter ihr aus dem Schatten traten, hatte sie erst bemerkt, als es zu spät war. Die beiden packten ihr Opfer, warfen ihr eine Jacke über den Kopf und schlugen mit Fäusten auf sie ein. Keine Zeit, um zu schreien, keine Zeit, um sich loszureißen und wegzurennen. Diesen Teil ihrer Erinnerung hasste sie mehr als alles, was folgte.
Ich hätte es schaffen können. Sie spürte, wie sie die Wadenmuskeln anspannte. Siegerin im Tausend-Meter-Lauf der Bezirks-Highschool; in der Leichtathletik-Mannschaft der Frauen an ihrer Uni eine der Besten. Ich hätte mich nur eine Sekunde losreißen müssen, und sie hätten mich nie eingeholt.
Sie erinnerte sich, wie die beiden Männer sie mit ihrem Gewicht fast erdrückten. Zuerst waren die Schmerzen heftig gewesen, dann seltsam entrückt. Sie hatte Angst gehabt zu ersticken und sich gewehrt, bis einer von ihnen ihr einen solchen Schlag gegen das Kinn versetzte, dass ihr Kopf nach hinten flog und ihr schwarz vor den Augen wurde. Als sie bewusstlos wurde, war sie fast erleichtert, von dem Entsetzlichen, das mit ihr geschah, nichts mehr zu spüren.
Während sie auf ihrer Fahrt nach Miami die Erinnerungen einholten, trat sie aufs Gas. Nichts passiert, dachte sie. Nach der Vergewaltigung im Krankenhaus aufgewacht. Dann die Abstriche, und noch einmal wurde in sie eingedrungen und in ihr herumgestochert. Dann ihre Aussage gegenüber der Beamtin von der Sitte. Können Sie die Angreifer beschreiben, Miss? Es war dunkel. Sie haben mich zu Boden gedrückt. Aber wie sahen sie aus? Sie waren stark. Einer hat mir eine Jacke über den Kopf gestülpt. Waren es Weiße? Schwarze? Latinos? Klein oder groß? Untersetzt? Dünn? Sie waren auf mir. Haben sie etwas gesagt? Nein. Sie haben es einfach nur getan. Sie hatte zu Hause angerufen und gehört, wie ihre Mutter in nutzlose Tränen ausbrach und ihr Stiefvater sich vor Zorn kaum halten konnte, fast so, als sei er wütend auf sie. Schließlich sprach sie mit einer Sozialarbeiterin, die Vergewaltigungsopfer betreute. Die hatte genickt und ihr zugehört. Shaeffer war bewusst geworden, dass das Mitgefühl der Frau zu ihrem Beruf gehörte, so wie die Leute, die in Disney World den Touristen scheinbar freundlich und spontan zuwinken, für
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